Verfolgt (2006)

- | Deutschland 2006 | 90 Minuten

Regie: Angelina Maccarone

Eine von Leben und Beruf frustrierte 52-jährige Bewährungshelferin lässt sich auf eine sado-masochistische Beziehung mit einem 16-jährigen Delinquenten ein, während der beide eine gewisse Satisfaktion erfahren, aber auch mit ihren widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert werden. Ein sehr offener, freilich nie voyeuristischer Film, der seinen beiden hervorragenden Hauptdarstellern einiges abverlangt, dem es durch seinen Wagemut aber eindrucksvoll gelingt, die seelische Tiefe seiner Protagonisten auszuloten. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
MMM Film Zimmermann & Co.
Regie
Angelina Maccarone
Buch
Susanne Billig
Kamera
Bernd D. Meiners
Musik
Jakob Hansonis · Hartmut Ewert
Schnitt
Bettina Böhler
Darsteller
Maren Kroymann (Elsa Seifert) · Kostja Ullmann (Jan) · Markus Völlenklee (Raimar) · Moritz Grove (Frieder) · Sila Sahin (Sonnur)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
MMM Film (1:1,85/16:9/Deutsch DD 5.1)
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Diskussion
Bewährungshelferin Elsa Seifert lebt in einer Beziehung, die außer routiniertem Nebeneinander wenig zu bieten hat. Als die Tochter aus dem Haus zieht, bleibt ihr nur noch der Job und die unbestimmte Sehnsucht nach einem Neuanfang. Wenn sie ihre minderjährigen Schützlinge im Gefängnis aufsucht, baut sie einen Panzer um sich auf, gibt sich streng und zeigt zugleich eine unterschwellige Nervosität, die aus gebändigter Leidenschaft zu kommen scheint. Die Glückswende ist nah, als sich ein 16-jähriger Straftäter von der Kühle der reifen Frau nicht eingeschüchtert, sondern angezogen fühlt. Dass der graziöse Teenager eine Neigung zum Masochismus hat, ahnt man bereits in der Eingangsszene, als er im Gefängnishof den Basketball an sich reißt und genüsslich den Zorn der aufgebrachten Spieler über sich ergehen lässt, die ihm das Utensil abnehmen wollen. Warum für ihn der körperliche Schmerz eine Art ersehnte Betäubung ist, erfährt man nicht, auch nicht, aus welchem sozialen Umfeld er stammt oder wie es dazu kam, dass er straffällig geworden ist. Das Fehlen einer erkennbaren Figurenzeichnung tut der Spannung dennoch keinen Abbruch. Ähnlich einem Stalker verfolgt der rätselhafte Jugendliche die vortrefflich gegen ihr Image besetzte Maren Kroymann auf Schritt und Tritt und bietet sich ihr so lange an, bis sie entnervt seinem Werben nachgibt. Eine Frau, ein Junge, ein Gefängnis, nächtliche Treffen in einer Autowerkstatt – das genügt, um aus dem Stoff die wunderbarste Zumutung des deutschen Films seit langem zu machen. Unter Verzicht auf Musik lebt „Verfolgt“ ganz von der visuellen Strenge der Inszenierung und den Orten des Übergangs, die sich der Kamera immer wieder aufdrängen: Brücken, Zuggleise, Bahnanlagen, Straßen. Selbst im Inneren eines Einkaufszentrums ist die Bewegung so präsent, dass der Raum seine Grenzen zu verlieren droht. Ohne Reminiszenzen an Genremuster oder Bildvorgaben, entwickelt aus der tastend suchenden Kontaktaufnahme mit der Wirklichkeit, erzählt Angelina Maccarone das erotische Abenteuer einer Frau, deren Leben in einer Sackgasse steckt. Eine Liebesgeschichte zwischen einer 52-Jährigen und einem 16-Jährigen sprengt auch heute noch die Grenzen des gesellschaftlichen Konsens, vor allem, wenn sie auf Erklärungen verzichtet und sado-masochistische Praktiken in den Mittelpunkt stellt. Wer aber schlüpfrige Szenen erwartet, kommt in diesem stilsicheren Schwarz-weiß-Film nach einem Drehbuch von Susanne Billig – der fast ohne Förderung und nur mit finanzieller Opferbereitschaft des Teams entstand – kaum auf seine Kosten. Maccarone geht es nicht um explizite Sexszenen, wie sie Patrice Chéreau in „Intimacy“ (fd 34 894) zelebrierte. Um Intimität durchaus, auch wenn diese erst zustande kommt, wenn Gefühle wie Verlangen, Erregung und Angst überhand nehmen und die Masken der Selbstdisziplinierung fallen. Ihr Liebespaar sucht zwar nach Erlösung in der Grenzüberschreitung, erlangt aber mehr Tränen und Ernüchterung als Satisfaktion – in Kostja Ullmann („Sommersturm“, fd 36 662) fand die Regisseurin zudem einen Ausdruckswillen und eine Kraft zur Intensität, die für so junge Darsteller staunenswert ist. Ullmann steigert sich so glaubwürdig wie unverständlich in seine Obsession, die Elsa ganz außer sich bringt, schauspielerisch aber nie als bloß wild oder maßlos erscheint. Als er von seinen eifersüchtigen Kumpanen aus der Heim-WG zusammengeschlagen wird, weil er sie an seinem Geburtstag sitzen lassen möchte, um Elsas spontaner Einladung zu folgen, bricht der Schutzraum der geheim gehaltenen Beziehung zusammen und mit ihr die selbst entworfenen Spielregeln, die den Altersunterschied negierten: Elsa muss eine Entscheidung treffen und lässt Vernunft und Erfahrung gegen die Emotionen siegen. Die amour fou zweier Menschen, die mit ihrem banalen Lebensunglück aufeinander prallen und für kurze Zeit der Einsamkeit entfliehen, inszeniert Maccarone schmucklos und mit schöner Direktheit als eine erfreulich unkonventionelle Variation auf den Lolita-Mythos. Es geht nicht darum zu beobachten und zu verstehen, sondern darum, dabei zu sein, wenn die Verzweiflung und Leere, die ganze Einsamkeit und Verletzlichkeit der Figuren sichtbar werden. Die größte Tabuzone in diesem sensationell unspektakulären Seelendrama jedoch ist das Alter. Die den Blick der Kamera magisch auf sich ziehende Maren Kroymann stellt ihren Körper mit großem Mut zur Wahrheit zur Schau: den schlaffen Bauch in Großaufnahme, die widerspenstigen Falten um die Mundwinkel. Dabei zeigt sie mit ihrer unverhofften Präsenz große Ähnlichkeit mit der Französin Nathalie Baye, die auch erst im fortgeschrittenen Alter ihre besten Rollen bekommt – wie überhaupt die Herkunft des Films in seiner Waghalsigkeit eher in Frankreich zu verorten wäre. In Locarno gehörte „Verfolgt“ dieses Jahr zu den gefeierten Beiträgen und gewann trotz aller Bedenken seitens der deutschen Filmförderung und der völligen Abstinenz von Fernsehgeldern den „Goldenen Leoparden“ in der neu geschaffenen Reihe „Cineasten der Gegenwart“. Ein irritierend schöner und nach dem Vorgänger „Fremde Haut“ (fd 37 290) erneut die üblichen Symmetrien sprengender Liebesfilm, der die Extreme der menschlichen Natur auslotet, ohne die Psyche seiner Protagonisten voyeuristisch nach außen zu kehren.
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