Drachenläufer

Drama | USA 2007 | 122 Minuten

Regie: Marc Forster

Ein in Kalifornien lebender Schriftsteller afghanischer Abstammung erinnert sich an seine Kindheit in Kabul, an einen Freund aus Kindertagen sowie an eine Schuld, die es zu tilgen gilt. Er macht sich auf den Weg in die von den Taliban beherrschte Heimat, die nur auf Umwegen zu erreichen ist. Die Verfilmung eines autobiografisch gefärbten Romans will sich der literarischen Struktur anpassen, kann aber nicht alle Verflechtungen der Vorlage bündeln. Dennoch ein beeindruckender Film, der in satten Farben von einer glücklichen Kindheit erzählt, bevor er in spannende Action umschlägt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE KITE RUNNER
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Wonderland Films/MacDonald-Parkes Prod./Neal Street Prod./Participant Prod./Sidney Kimmel Ent.
Regie
Marc Forster
Buch
David Benioff
Kamera
Roberto Schaefer
Musik
Alberto Iglesias
Schnitt
Matt Chesse
Darsteller
Khalid Abdalla (Amir) · Homayoun Ershadi (Baba) · Shaun Toub (Rahim Khan) · Saïd Taghmaoui (Farid) · Atossa Leoni (Soraya)
Länge
122 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs und der Autoren Hosseini und David Benioff.

Verleih DVD
Paramount (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./dt.)
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Diskussion
Die Schnur ist scharf, so scharf, dass sie blutige Striemen in die empfindlichen Handinnenflächen schneiden kann. Amir spürt den Schmerz nicht, auch wenn der Drachen hoch in der Luft die aberwitzigsten Wendungen vollführt und an der Leine zerrt, als wollte er sich losreißen. Den Stolz seines allein erziehenden Vaters, der von einer Brüstung aus zusieht, wünscht sich Amir mehr als alles andere. Kabul, 1975: Das sind Ort und Zeit des Drachenflugwettbewerbs. Marc Forsters Film beginnt viele Jahre später, Amir ist erwachsen und lebt verheiratet in Kalifornien. Ein Anruf holt den Schriftsteller zurück in die Vergangenheit: Mit den kryptischen Worten „Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen“ bittet ihn ein alter Freund des Vaters, in die Heimat zurückzukehren und damit eine Reise in die eigene Kindheit anzutreten. Die Kindheit ist ein Stadium der Unschuld. Doch Kinder können grausam sein; und sie können Schuld auf sich laden, dies gilt zumindest für ihr eigenes Empfinden. Die Schuld klebt an Amir, seine melancholische, zurückhaltende, grüblerische Art rührt wohl von diesem Stigma. Er hat als Junge seinen besten Freund Hassan verraten, ist nicht eingeschritten und hat sich versteckt, als ihm von älteren Jugendlichen Grausames zugefügt wurde. Der Stolz seines Vaters war Amir wichtiger. Die Rückblende in die Kindheit Amirs, in die unbeschwerte Zeit vor dem Verrat zusammen mit seinem Freund Hassan, der als Sohn des Hausdieners auf dem Anwesen von Amirs Vater lebt, beschwört ein unversehrtes Afghanistan, ein lebendiges, alltägliches, unzerstörtes Kabul herauf. Ebenso nimmt die Entwicklung der Jungenfreundschaft, der jähe Bruch durch den schrecklichen Vorfall auch die politischen Ereignisse vorweg, den Einmarsch der Russen, die überstürzte Flucht ins Exil von Amir und seinem Vater, die zur Kabuler Elite, den Paschtunen gehören – im Gegensatz zu Hassan, einem Hazara. Die Politik spiegelt sich in den Figuren und ihren komplexen Beziehungen, auch in Metaphern wie dem Drachenflugwettbewerb. Politische Zusammenhänge werden angedeutet und erscheinen durch die unterschiedlichen Charaktere subjektiv gefiltert, „Drachenläufer“ wird damit zu einer Art umgedrehtem „Syriana“ (fd 37 488): Der große Zusammenhang, „The Big Picture“ wird radikal subjektiviert. Der Film bewegt sich nah an der literarischen Vorlage von Khaled Hosseini, der in Afghanistan aufwuchs und als Jugendlicher mit seiner Familie nach Amerika auswanderte. Er schreibt in einer klaren Sprache, widmet sich detailreich der minutiösen Schilderung bestimmter Gegebenheiten und Abläufe, die sich nahtlos in Regieanweisungen und Bilder übertragen lassen. Im Großen und Ganzen hat der Film die Zeitstruktur des Buchs übernommen: Beginnend in der Gegenwart, springt er weit zurück in die Vergangenheit und erzählt mit Unterbrechungen Amirs Leben bis zu dem Punkt, an dem er den entscheidenden Anruf erhält – von hier an begleiten sie ihn auf seiner Reise in die Heimat, die sowohl die Konfrontation mit seiner Schuld als auch die Tilgung derselben bedeutet. Nun lässt sich die epische Breite eines Romans nicht nahtlos auf die Filmzeit übertragen. Poetisch, sensibel und plastisch ist der erste Teil des Films, die lange Rückblende in die Kindheit umgesetzt, auch in satten Farben. Gerade im Vergleich dazu wirkt Amirs Leben als Erwachsener in San Francisco ein wenig blass – auch wenn diese Blässe Teil seiner unvollständigen, durch die Schuld beeinträchtigten Persönlichkeit ist und mit entsättigten Farben, vielen Grautönen in die Bildgestaltung Eingang findet. Es fehlt im Film einfach die Zeit, alle Beziehungen, Ereignisse, Verflechtungen ausführlich zu erzählen. In dem Versuch, dies trotzdem zu schaffen, entgleitet ein wenig die Figur des erwachsenen Amir. Schließlich wechselt „Drachenläufer“ fast das Genre: Amirs Reise nach Pakistan und von dort aus mit angeklebtem Bart ins hermetisch abgeriegelte Afghanistan unter der Schreckensherrschaft der Taliban entwickelt sich zum spannenden Actionfilm, in dem Schwarz und Weiß, Gut und Böse klar voneinander getrennt sind. Möglicherweise hängt der Einwand, dass die Erwachsenenwelt gegenüber der Rückblende in die Kindheit nur abfallen kann, aber auch mit einem besonderen Talent des Regisseurs zusammen: Schon in „Wenn Träume fliegen lernen“ (fd 36 908), der halbbiografischen Geschichte des „Peter Pan“-Autors J.M. Barrie, hat er gezeigt, wie sensibel er Kinderdarsteller inszenieren und wie gut er sich in kindliche Vorstellungswelten einfühlen kann. Seine jugendlichen Schauspieler für „Drachenläufer“ hat er in Kabul gefunden, zumindest die Darsteller des Amir und des Hassan stehen zum ersten Mal vor der Kamera, insbesondere Ahmad Khan Mahmoodzada als Hassan spielt seine schwierige Rolle natürlich und vielseitig. Amirs Freund Hassan ist der Drachenläufer des Titels, er weiß immer am besten, wo die begehrte Trophäe niedergeht – der letzte Drachen, den die Schnur des Siegers vom Himmel schneidet. Denn so läuft der Wettbewerb: Wo sich zu Beginn viele Drachen den Himmel teilen, bleibt am Ende einer übrig, derjenige, der am geschicktesten manövriert wurde, am elegantesten den Wendungen der anderen ausgewichen ist. Als Hassan losläuft, um den blauen Drachen für Amir zu holen, ruft er in grenzenloser Loyalität: „Für dich – tausendmal!“ Diese Freundschaftsbekundung gilt es für Amir auf seiner gefährlichen Reise einzulösen – nur tausendmal erwachsener.
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