Ihr Name ist Sabine

Dokumentarfilm | Frankreich 2007 | 88 Minuten

Regie: Sandrine Bonnaire

Die französische Schauspielerin Sandrine Bonnaire dokumentiert die Krankheitsgeschichte ihrer jüngeren Schwester Sabine, die als psycho-infantil mit autistischen Zügen diagnostiziert wurde und deren Zustand sich während eines mehrjährigen Psychiatrie-Aufenthalts deutlich verschlechterte. Sandrine Bonnaire zeigt Sabines Schicksal sowie die Hilflosigkeit ihrer Familie mit aller Schonungslosigkeit, aber auch mit außerordentlicher Liebe, wobei der verallgemeinerbare Fall der psychisch Kranken nicht zuletzt das Versagen der Institution Psychiatrie und einer Gesundheitspolitik offenbart, die die Kranken und ihrer Angehörigen weitgehend im Stich lässt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ELLE S'APPELLE SABINE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Mosaique Films
Regie
Sandrine Bonnaire
Buch
Sandrine Bonnaire
Kamera
Sandrine Bonnaire · Catherine Cabrol
Musik
Nicola Piovani · Jefferson Lembeye · Walter N'Guyen
Schnitt
Svetlana Vaynblat
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
„Ich erinnere mich!“, murmelt die Frau auf dem Sofa. Gezeigt bekommt sie gerade DVD-Bilder aus Amerika, Momentaufnahmen einer Reise, die sie vor Jahren mit ihrer älteren Schwester unternahm. Die junge Frau, die man hier im Urlaub erlebt, sieht ihrer älteren Schwester erstaunlich ähnlich. Die ältere Schwester ist Sandrine Bonnaire, der französische Filmstar, die hier in ihrem dokumentarischen Regiedebüt ihre jüngere Schwester porträtiert. Das „Problem“: Die jüngere Schwester Sabine, Diagnose: psycho-infantil mit autistischen Zügen, müsste die junge Frau im Fernsehen eigentlich mit der Frau hinter der Kamera in Verbindung bringen, denn sie selbst hat sich sehr verändert. 30 Kilo schwerer, mit kurzen Haaren, dämmert sie sabbernd vor sich hin, hat nur ab und zu mal einen lichten Moment, neigt dafür aber unvermittelt zu körperlicher Aggression. Sandrine Bonnaire reflektiert die Krankheitsgeschichte ihrer Schwester, zielt dabei aber durchaus aufs Allgemeine: eine Kritik der staatlichen Versorgung psychisch Kranker in Frankreich. Bereits als Kind wurde Sabine auffällig. In der Schule als „Idiotin“ gehänselt, brach sie ihre Ausbildung ab, wuchs aber in der Familie behütet auf, entwickelte Talente, spielte Bach, reiste mit der Schwester in die USA. Weil die Filmemacherin ihre Schwester immer schon gefilmt hat, gibt es alte Aufnahmen, deren Konfrontation mit der Gegenwart nahezu unerträglich ist. Konnte man zunächst noch denken, dass Sandrines Erinnerungen an eine andere Sabine vor der Einweisung in die Psychiatrie vielleicht sentimental geschönt sind, belegen die Bilder das Gegenteil. Nur manchmal schleicht sich ein dunkler Schatten der Krankheit in die alten Bilder, reagiert Sabine auf kleine Scherze mit abgründiger Unsicherheit. Von der Krise selbst fehlen Bilder, hier fungiert Sandrine Bonnaire als Erzählerin aus dem Off. Nach dem Tod des Bruders, aber wohl auch mit der altersbedingten Auflösung der festen Familienstruktur verschlechtert sich Sabines Gesundheitszustand; sie lebt mit der Mutter, der sie zunehmend mit Gewalt begegnet. Um die Mutter zu entlasten, nehmen die Schwestern Sabine wieder zu sich, lassen sie psychiatrisch untersuchen. Es gibt keine Diagnose. Sandrine mietet eine zweite Wohnung, engagiert Pfleger, die nach ein paar Monaten erschöpft aufgeben. Aus der allgemeinen Ratlosigkeit resultiert schließlich eine Einweisung in die Psychiatrie. Es werden fünf Jahre daraus, an deren Ende Sabine buchstäblich kaputt gemacht worden ist. Mittlerweile lebt sie seit einigen Jahren in einem betreuten Heim mit anderen psychisch Kranken in der Provinz. Ihre Betreuerin berichtet von erstaunlichen Fortschritten, die erahnen lassen, was in der Klinik mit der Patientin angerichtet wurde. „Ihr Name ist Sabine“ ist ein Furcht erregender Film, der dem Zuschauer nichts erspart. Nicht die Wut über das „Schicksal“ der Schwester, nicht die Frustration im Umgang mit der Kranken, nicht die Liebe, mit der sich Sandrine um Sabine kümmert. Der Film dokumentiert die Ohnmacht und Verzweiflung der Familie, die vergeblich um Sabine kämpft und auf keine institutionelle Infrastruktur trifft. Sandrine Bonnaires Film zeugt von großer Nähe und zugleich von disziplinierter Distanz, es wird nichts beschönigt oder sentimentalisiert. Gegen Ende werden Auseinandersetzungen zwischen den Schwestern gezeigt, die deutlich machen, dass das fortwährende Einfordern von Nähe durch Sabine auch ziemlich nerven kann. Man bewundert die Geduld und Professionalität der Betreuer im Heim, in dem Sabine heute lebt. Man sieht auch, wie Sabine reagiert, wenn sich Sandrines Kamera einmal anderen Menschen zuwendet. Ganz am Schluss bekommt Sabine eine DVD mit den besagten Aufnahmen der Amerika-Reise geschenkt. Als sie die Bilder sieht, beginnt sie zu weinen. Sandrine wirft ein, wenn es zu viel werde, könne sie den Film auch stoppen, doch Sabine betont, sie weine vor Glück. Keineswegs, dies stellt der Film wiederholt unmissverständlich fest, darf man hoffen, dass Sabine ihre Geschichte nicht mitbekommen hat. Abschließend stellt Sandrine ein paar rhetorische Fragen, die um die Hoffnung auf Besserung kreisen. Nein, viel Hoffnung gibt es nicht. So bleibt dieser Film ein zutiefst verstörendes und ehrliches Dokument einer Krankheitsgeschichte, die in dieser Form wohl nicht so hätte verlaufen müssen, was politische Fragen über Gesundheitspolitik und Psychiatrie aufwirft. Sabine ist ein Individuum, dessen Geschichte verallgemeinerbar ist. Sandrine Bonnaire zeigt das mit aller Schonungslosigkeit und mit außerordentlicher Liebe. Dass das Heim, in dem Sabine heute lebt, überhaupt existiert, verdankt sich dem Engagement einiger Privatleute, gepaart mit der Prominenz des Filmstars. Auch das ist in diesem ganz speziellen Fall eine bittere Einsicht.
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