Wenn einer von uns stirbt, geh' ich nach Paris

Dokumentarfilm | Deutschland/Niederlande 2009 | 80 Minuten

Regie: Jan Schmitt

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Niederlande
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Jan Schmitt Filmprod./View and Listen
Regie
Jan Schmitt
Buch
Jan Schmitt
Kamera
Axel Gerke
Musik
Guido Solarek
Schnitt
Ania Harre
Länge
80 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Auch die Nachbarin kann es immer noch nicht richtig fassen. Die Frau gegenüber hat das Häuschen noch renovieren lassen und voller Elan für eine Prüfung gelernt. Nur, dass sich die Post vor der Eingangstür stapelte, kam der Nachbarin komisch vor. Man brach die Tür auf, und im Bett lag eine Tote mit geschminkten Lippen und gekämmten Haaren. „Wie Schneewittchen“, sagt eine Freundin. Mechthild hat Schlaftabletten genommen. „Keine lebensverlängernden Maßnahmen“, stand im Abschiedsbrief. Kann ein Film über eine Tote nicht auch lebensverlängernd sein? Worin liegt der Sinn, ein Leben, die schönen und die schwarzen Momente, noch einmal aufzurollen? Hat nicht die Hauptfigur einen endgültigen Schlusspunkt gesetzt und gewollt? Andererseits: Vielleicht hilft die radikale, mitunter schwer erträgliche Offenheit, mit der in diesem Film Familiengeheimnisse ans Licht gerissen werden, den Schmerz der Lebenden zu lindern. Am Ende des Dokumentation erfährt man, dass auch Mechthilds Tochter einen Selbstmordversuch verübt hat – als es den Film noch nicht gab. Der Freitod der Mutter „hat die Familie bis heute im Griff“, sagt ihr Sohn, der Regisseur Jan Schmitt. Seine filmische Spurensuche ist ein Plädoyer dafür, die Dinge zur Sprache zu bringen. Am Ende bleibt dennoch die Frage, wie viel Enthüllung eigentlich zuträglich ist – für die Lebenden. „Wenn einer von uns stirbt, geh’ ich nach Paris“: Der Titel geht auf einen flapsigen Spruch unter Eheleuten zurück. So heißt das Filmdebüt des 40-jährigen Filmemachers. 1996 hat sich seine Mutter das Leben genommen. Schmitts Spurensuche bringt mehr Licht in die bedrückenden Lebensumstände der Mutter, als vielen Beteiligten lieb sein kann. Erzählt wird eine jener Lebensgeschichten, die, wäre sie ein Filmskript, jeder Produzent als „übertrieben“ ablehnen würde. Mechthild wird in einer Bombennacht 1942 geboren. Die Familie ist streng katholisch. Mit 16 wird die offenbar renitente dritte Tochter einem kirchlich geführten Jugenddorf „zugeführt“. Dort leben ansonsten nur Waisen. „Sie trug eine Last mit sich herum“, sagt eine der ehemaligen Heimbewohnerinnen, die der Regisseur im Jugenddorf zusammenführt. Im Film kommen auch Mechthilds Schwestern zu Wort. Ihre Wahrnehmung scheint die einer mehr oder weniger normalen Familie zu sein. Nur Mechthild war anders. Schmitt rekonstruiert Ungeheuerliches: Ein Jesuitenpater macht sich erst an die Mutter, dann an die Tochter heran, vergewaltigt sie in regelmäßigen Abständen. Die Eltern dulden das Verbrechen. Nach jedem Akt beten Täter und Opfer um Vergebung, dann erteilt der Pater dem Mädchen die Absolution: „Der Schuldtrick hat ein Leben lang funktioniert“, notiert Mechthild im Tagebuch. Mit 14 Jahren wird sie schwanger, entbindet zu Hause auf dem Küchentisch eine Totgeburt. Sie wird der Familienräson geopfert – „Ihr habt mich verraten und verkauft“, schreibt sie später. Auch eine zweite Geburt wird totgeschwiegen. Das Kind lebt, wird zur Adoption freigegeben, seine Spur verliert sich. Ist der Junge im selben Jugenddorf aufgewachsen wie seine minderjährige Mutter? Steckt ihr Peiniger hinter ihrer Einweisung? Schmitt sucht den greisen Jesuitenpater in einem Altenheim auf und hört den verräterischen Satz: „Hoffentlich hat sie sich nicht meinetwegen umgebracht.“ 300.000 Kinder werden nach Schätzung des Bundeskriminalamts jährlich in Deutschland missbraucht. Eine schreckliche, wenn auch abstrakte Zahl. Indem sich Schmitt, in eigener Sache, eines exemplarischen Falls annimmt, beleuchtet er die Wirklichkeit hinter der Dunkelziffer. „Wenn einer von uns stirbt“ könnte noch verstörender wirken, wenn die Inszenierung Tagebuch-Erinnerungen der Mutter nicht in Fernsehdoku-Manier in Szene gesetzt hätte. Eine Einstellungsfolge mit Hofkindern, die in den 1950er-Jahren „Himmel-und-Hölle“ spielen, geht noch an; wenn „Pater K.“ in zwei kurzen Spielszenen leibhaftig erscheint, schrammt der Film haarscharf am Rand der Lächerlichkeit vorbei. Weniger geglückt sind auch die Passagen, in denen über Bildern von Mechthilds letzter Lebensstation Bremerhaven Meret Beckers Singstimme erklingt, Momente, in denen Suzanne von Borsody Tagebuchnotizen vorträgt oder August Diehl mit wohlgesetzten Worten den Sprecherpart absolviert. Jan Schmitt ist öfter im Bild zu sehen, warum also spricht er seine Gedanken nicht selbst aus? Wie viel hält ein Mensch aus? Mit dem Tod ihres zweiten Mannes scheint Mechthild allen Lebensmut zu verlieren. Am Ende zieht ihr eine frühkindliche Erinnerung restlos den Boden unter den Füßen weg. Es ist die Erinnerung an den Missbrauch durch den Vater, die ihr während einer Sitzung im Rahmen einer Gestalttherapie-Ausbildung ins Bewusstsein schießt. Ein heikler Punkt im Film, weil er durchblicken lässt, wie fahrlässig mit psychischen Erkrankungen umgegangen wird. Wer lässt eine Frau, die selbst eine aufreibende Psychoanalyse hinter sich hat, zu einer Therapeutenausbildung zu? Unklar bleibt, ob Mechthild niemanden hatte, der sie in ihrem Zustand auffangen konnte oder ob sie eine solche Hilfe womöglich gar nicht wollte. „Niemand war da, der ihre Lebensperspektive noch einmal hätte öffnen können“, sagt eine Freundin. „Hätte sie sich auch anders entscheiden können“, fragt der Regisseur, „für sich, für uns, für das Leben?“ Am Schluss besteigt ihr Sohn den Eiffelturm. Mechthild ist doch nicht nach Paris gefahren.
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