Drama | Türkei/Deutschland/Frankreich 2008 | 103 Minuten

Regie: Semih Kaplanoglu

Coming-of-Age-Drama aus der anatolischen Provinz: Anhand der Beziehung zwischen einer Bäuerin und ihrem 18-jährigen Sohn zeigt der Film Belastungen und Chancen des gegenseitigen Ablösungsprozesses. In einer Mischung aus protokollarischer Strenge und zärtlichen Einblicken in das Innenleben der Protagonisten erwächst eine ruhige, subtil melancholische Parabel über das doppelte Erwachsenwerden von Mutter und Sohn, aber auch das vielschichtige Porträt einer Gesellschaft, in der Tradition und Moderne miteinander konkurrieren. (O.m.d.U.; Mittelstück der "Yusuf-Trilogie" des Regisseurs, zu der noch die Filme "Yumurta" und "Bal - Honig" gehören.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SÜT
Produktionsland
Türkei/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Kaplan Film/Heimatfilm/Arizona Films
Regie
Semih Kaplanoglu
Buch
Semih Kaplanoglu · Orçun Köksal
Kamera
Özgür Eken
Schnitt
François Quiqueré
Darsteller
Melih Selçuk (Yusuf) · Basak Köklükaya (Zehra) · Riza Akin (Ali Hoca) · Saadet Isil Aksoy (Semra) · Tülin Özen (Dorfmädchen)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Im Jahr 2007 erschien „Yumurta“, der erste Film von Semih Kaplanoglus „Yusuf“-Trilogie: Ein Dichter kehrt nach dem Tod seiner Mutter aus dem selbstgewählten großstädtischen Exil zurück in seinen Geburtsort. Neben der Trauerarbeit ging es Kaplanoglu damals auch schon um die Wiederentdeckung der Provinz, um eine Spurensuche in der Erinnerung. „Süt“ zeigt nun die Vorgeschichte als Coming-of-Age-Drama in Form eines beiderseitigen Loslösungsprozesses von Mutter und Sohn. Seinen Blick ins Innenleben der Protagonisten erweitert Kaplanoglu geschickt zum Porträt einer ländlich geprägten Gesellschaft unter Modernisierungsdruck: Der 20-jährige Yusuf lebt mit seiner Mutter Zehra am Rand einer anatolischen Kleinstadt, wo sie einen bäuerlichen Minibetrieb führen. Die Einkünfte, die sie durch den Verkauf von Käse und Milchprodukten auf dem Markt erwirtschaften, reichen gerade zum Überleben. Yusuf, nicht Kind und noch nicht richtig erwachsen, wird von seiner Mutter gedrängt, mehr zum gemeinsamen Lebensunterhalt beizutragen. Eine Aufgabe, die er nicht erfüllen kann und will; stattdessen träumt er von einer Karriere als Dichter. Damit wäre der Grundkonflikt zwischen bodenständiger Provinzialität und einem Feingeist, der urbanen Lebensformen zugeneigt ist, gelegt. Doch Kaplanoglu geht tiefer, zeigt seine Protagonisten auf der Ich-Suche zwischen Rollenbildern und Tagträumen. Da ist Mutter Zehra, die ihren Sohn mal wehmütig beobachtet, mal auffordert, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Der fast erwachsene Junge, der da vor ihr sitzt, ist nicht mehr das Kind, dem ihre Fürsorge gilt. Doch in die Sehnsucht nach der vergangenen Mütterlichkeit mischt sich die Suche nach einer neuen Subjektivität, nach Weiblichkeit, nach neuer Identität. Und nach einer neuen Liebe, etwa, wenn sie sich in den örtlichen Bahnhofsvorsteher verguckt. Was bei Yusuf Eifersucht provoziert: Er hat seinen Weg noch nicht gefunden, ist noch nicht bereit, die Mutter loszulassen. Für Kaplanoglu kommt der Mutter-Sohn-Beziehung in der traditionellen anatolischen Gesellschaft eine Schlüsselstellung zu: „In unserer Kultur symbolisiert die Mutterfigur Begriffe wie Erde und Nation und trägt einen heiligen Wert. Das Herz dieses Mutter-Bildes basiert auf Familienehre, Moral, Brauchtum und Traditionen, die Mutter repräsentiert Reinheit und Sittsamkeit.“ Die mit diesem Bild verbundenen beiderseitigen Erwartungshaltungen liegen wie Mehltau über der späten Pubertät, die Yusuf in der Provinz verbringt. Zumal in einer Gesellschaft, deren Lebensgefühl sich mit Modernisierung, Industrialisierung und Migration ändert, in der Neu und Alt miteinander konkurrieren. Ein komplexer Provinzalltag, den Kaplanoglu mit protokollarischer Strenge seziert, während die Kamera zärtlich die kleinen Gesten und Blicke einfängt, mit denen Mutter und Sohn – oftmals aneinander vorbei, aber immer mit der notwendigen Restwärme – ins Gespräch zu kommen versuchen. In der von ständigen Winden durchfurchten Ebene nahe der Kleinstadt Tire im Hinterland der Ägäis, wo „Süt“ entstand, findet er, von der antiken Ausgrabungsstätte bis zum Tagebaugebiet, die richtigen Drehorte, um das Nebeneinander von Tradition und Moderne einzufangen, ohne eine Wertung vorzunehmen. Der Ablösungsprozess, so die Botschaft der ruhigen, subtil melancholischen Parabel über das doppelte Erwachsenwerden von Mutter und Sohn, findet in allen Epochen statt. Heutzutage ist es nur etwas schwieriger, aber auch freier geworden.
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