Die zwei Leben des Daniel Shore

Drama | Deutschland/Marokko 2009 | 95 Minuten

Regie: Michael Dreher

Ein Aufenthalt in Tanger endet für einen jungen Deutsch-Amerikaner tragisch, als ein kleiner Junge ums Leben kommt. Zurück in Deutschland, zieht er in ein Mietshaus in Stuttgart, wo die Erinnerungen an Tanger und die kafkaeske Seltsamkeit der Hausbewohner dafür sorgen, dass der junge Mann zunehmend den Blick für die Realität verliert und sich in seinen inneren Bildern zu verlieren droht. Das ambitionierte Drama nimmt vor allem durch die atmosphärisch stimmige Inszenierung sowie die überzeugenden Darsteller für sich ein, auch wenn die gewagte Dramaturgie mitunter etwas konfus anmutet. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Marokko
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Zum Goldenen Lamm Filmprod./Starhaus Filmprod./Kasbah Films Tangiers/Jan C. Pyttel/HR-Arte/BR
Regie
Michael Dreher
Buch
Michael Dreher
Kamera
Ian Blumers
Musik
Lorenz Dangel
Schnitt
Wolfgang Weigl
Darsteller
Nikolai Kinski (Daniel Shore) · Katharina Schüttler (Elli) · Morjana Alaoui (Imane) · Sean Gullette (Henry Porter) · Judith Engel (Frau Kowalski)
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. den Kurzfilm "Fair Trade".

Verleih DVD
Kinowelt (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Die Stadt Tanger wurde im Kino schon öfter als Projektionsfläche für die Sehnsüchte bürgerlicher Urlauber aus dem Westen inszeniert – in „Tangerine“ (fd 39 272) etwa hat Irene von Alberti ein deutsches Paar mit der Realität marokkanischer Frauen konfrontiert, die ihren Lebensunterhalt mit Prostitution verdienen. „Die zwei Leben des Daniel Shore“ ist in einem ähnlichen Setting angesiedelt, wirkt aber trotz seines Authentizität vorgebenden Realismus – Laiendarsteller, eine bewegte Handkamera – eher expressiv inszeniert, mit symbolisch aufgeladenen Bildern und der emotionalen Wucht eines Alejandro González Iñárritu, an dessen achronologische Erzählweise sich Michael Dreher ohnehin anzulehnen scheint. Daniel Shore, ein Deutsch-Amerikaner, ist nach Tanger gekommen, um ein paar Wochen im Haus seines Freundes Henry zu verbringen. Seine Doktorarbeit kommt nicht recht voran, er lässt sich treiben, genießt die Terrasse und das Nachtleben. Dort lernt er Imane kennen, eine Prostituierte und Mutter eines zehnjährigen Sohnes. Amouröse und ökonomische Interessen vermischen sich, die kulturellen Barrieren sind kompliziert und letztendlich nicht zu lösen. Mit einem tragischen Ereignis, dem Tod von Imanes Sohn, endet schließlich Daniels Zeit in Tanger, und damit beginnt auch der Film. Der Junge ist von der Dachterrasse gestürzt. Ob er gestürzt wurde oder selbst gesprungen ist, weiß man (noch) nicht. Henrys pädophile Neigungen spielen dabei offensichtlich eine Rolle, so erfährt man später. Fortan beginnt nicht nur ein anderes Leben für Daniel Shore, sondern auch ein gänzlich anderer Film für den Zuschauer. Der Schauplatz ist nun ein Mietshaus in Stuttgart, das der von Schuldgefühlen geplagte Daniel von seiner verstorbenen Großmutter geerbt hat. Dessen Ordnung ist jedoch keineswegs transparenter als die post-kolonialen Zustände in Tanger. Die Hausbewohner sind schrullig-skurril, aber kaum auf die erheiternde Art. Auf Daniel wirken sie eher verstörend, und wäre das ganze Ambiente nicht so explizit kafkaesk, würde man sie einfach verhaltensgestört nennen. Da gibt es einen verklemmten Bankangestellten, der sich verdächtig um einen kleinen Jungen bemüht, der wortlos und verängstigt durchs Treppenhaus huscht (die Wiederholung einer Katastrophe?), da sind die Sängerin Elli und die Hausverwalterin Frau Kowalski, beides Frauen, deren penetrante Freundlichkeit ins Dreiste kippt. Während Daniel zunehmend von Erinnerungen (oder Fantasien) eingeholt wird – Szenen aus Tanger, die Aufschluss über den Tod des Jungen geben sollen, werden dazwischen geschnitten – setzen sich auch Projektionen und paranoide Vorstellungen in Bezug auf die undurchsichtige Hausgemeinschaft in Gang. Es kommt zur Überlagerung von Realität und Fiktion, objektiver und subjektiver Erzählung, aber auch von zwei unterschiedlichen Bildästhetiken. Hier der Realismus Tangers mit seinen großzügigen, hellen Außenaufnahmen, dort die klaustrophobische Innenwelt des Mietshauses mit seinen abgedunkelten Brauntönen und schrägen Perspektiven durch Türspione oder Hausflure. Bei diesen Bildern nicht an Polanskis „Der Mieter“ (fd 19 973) zu denken, ist fast unmöglich. Die vielen Fäden wollen bei Dreher jedoch nicht richtig zusammenfinden, und womöglich sollen sie es auch nicht. Im Unterschied zu Iñárritus Filmen fügen sich die einzelnen Puzzleteile hier nicht zu einem einzigen, objektiv „wahren“ Bild, sondern verwirren eher die Vorstellung einer kohärenten Erzählung. Konzeptuell mag das durchaus Sinn machen, in der Umsetzung ist dieser Mangel an Klarheit auf Dauer jedoch frustrierend. Ermüdend ist auch die Redundanz der visuellen Motive – beispielsweise die immer wiederkehrende, Unheil suggerierende Fahrt durch den Hausflur oder das etwas platte Bild der Schlange. Die Geschichte tritt irgendwann auf der Stelle, verliert sich in Wiederholungen und Nebensträngen. Dass der Film dennoch interessant ist, liegt vor allem an Drehers eigenwilligem Stil. Für sich genommen ist die Atmosphäre der beiden Settings nämlich stimmig und dicht, wenn auch der marokkanische Teil mitunter in die Falle des Nebulös-Exotistischen tappt. Auch den Darstellern schaut man gerne zu, vor allem Nikolai Kinski, der wenig macht, aber viel erzählt und jede Form des gequälten Pathos vermeidet. Er spielt Daniel Shore als einen Schock gefrorenen Mann, dem die Wirklichkeit immer mehr entgleitet und der zuletzt in eine Art Starre verfällt. Dafür haben sich die Bilder in seinem Kopf in Bewegung gesetzt, sie besitzen ihn.
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