Cheyenne - This must be the Place

- | Italien/Frankreich/Irland 2011 | 118 Minuten

Regie: Paolo Sorrentino

Ein Rock-Star, der sich aus der Musikszene zurückgezogen hat und in Irland einen exzentrischen Ruhestand genießt, macht sich auf, um in den USA einen Alt-Nazi zu jagen, mit dem sein verstorbener jüdischer Vater eine Rechnung offen hatte. Das fantasievolle Porträt einer schillernden "Kunstfigur", in deren Identitätssuche sich poetisch und mit skurrilem Humor Befindlichkeiten einer bestimmten Musik- und Popkultur manifestieren. Die Thematisierung der NS-Vergangenheit bleibt ein eher fragwürdiger Vorwand für die Entfaltung einer Reise, die den kauzigen Helden zu einer Art von Selbstfindung führt. (Preis der Ökumenischen Jury Cannes 2011) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CHEYENNE - THIS MUST BE THE PLACE
Produktionsland
Italien/Frankreich/Irland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Indigo Film/Lucky Red/Medusa Film
Regie
Paolo Sorrentino
Buch
Umberto Contarello · Paolo Sorrentino
Kamera
Luca Bigazzi
Musik
David Byrne · Will Oldham
Schnitt
Cristiano Travaglioli
Darsteller
Sean Penn (Cheyenne) · Frances McDormand (Jane) · Judd Hirsch (Mordecai Midler) · Eve Hewson (Mary) · Kerry Condon (Rachel)
Länge
118 Minuten
Kinostart
10.11.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Diskussion
Ein Hund mit Halskrause tollt vor einem herrschaftlichen Anwesen. In diesem akzentuiert sich der schwarz gewandete Herr des Hauses sein Gesicht mit Kajal und Lippenstift, schlurft danach mit Rollator ins örtliche Einkaufszentrum und hält dort mit einem ähnlich geschminkten Gothic-Mädchen einen Plausch in lethargisch-zugedröhntem Sprachduktus. Sie sitzen in einem riesigen Glaskomplex, der tyrannisch über den benachbarten Backsteinhäusern von Dublin thront und den Bewohnern die Sonne nimmt. Hier kennt jeder Cheyenne, jeder mag und grüßt ihn. Dabei sieht er so angeknabbert aus, wie es eine Vergangenheit als Rock-Star wohl verlangt. Zu viele Drogen, zu viele Frauen, zu laute Musik – das ist der Eindruck, den die von Sean Penn verkörperte Figur als Persiflage von „The Cure“-Sänger Robert Smith vermittelt. Penns Gesicht erstarrt unter dem schwarzgefärbten Vogelnest von einer Frisur, das den Kopf der entrückten Rock-Ikone im Ruhestand ziert. Umso lebendiger und nachdenklicher seine Augen. Etwas langsam auf den Beinen und im Kopf wirkt Cheyenne, doch wird er beständig von seiner Umwelt unterschätzt. Denn Cheyenne hat nicht nur das Herz am rechten Fleck, sein Geist ist auch wortwörtlich weniger verrückt, als es sein Äußeres andeutet. Und aus diesen geistigen Kräfte muss Cheyenne bald schöpfen, als er sich auf die Spur eines Nazi-Verbrechers begibt, der einst als KZ-Aufseher Cheyennes gerade verstorbenem, jüdischem Vater das Leben zur Hölle machte. 30 Jahre mied Cheyenne diesen Vater, nun erfährt er, dass dieser seinen Peiniger nicht mehr ausfindig machen und die offene Rechnung nicht mehr begleichen konnte. Cheyenne bricht in die USA auf, will den dort lebenden Greis ausfindig zu machen, vielleicht als Wiedergutmachung des langen Schweigens, vielleicht als Flucht vor dem heimischen Trott. Ob er die Rache, die seinem Vater versagt blieb, überhaupt ausführen will, darum dreht sich dieser Versuch eines verloren gegangenen Sohns, sich sozusagen postmortal mit dem verloren geglaubten Vater auszusöhnen – parallelisiert in der Filmhandlung durch die nur angedeutete Geschichte eine Frau, die im Schatten des Einkaufszentrums wohnt und ebenfalls jemanden zu vermissen scheint. „This must be the Place“ heißt ein Song der „Talking Heads“ – nicht von „Arcade Fire“, wie Cheyenne einmal einen kleinen Fan berichtigt. Dieser Junge, mit dem er sich über Musik unterhält und für den er sogar nach Jahren der musikalischen Abstinenz wieder die Gitarre zur Hand nimmt, ist ausgerechnet der Enkel jenes Mannes, dem seine Suche gilt; doch das rückt für Cheyenne und den Film in den Hintergrund angesichts der Begegnung zweier Kinder unterschiedlicher Generationen. „This must be the Place“ ist ein Titel voller Sehnsucht; im Film ist er zugleich Prämisse und Ziel eines klassischen Road Movie mit einer gar nicht klassischen Figur. Diese scheint immer da zu sein, wo die Bildmitte ist – ähnlich wie „Il Divo“, der kriminell verbandelte Ministerpräsident Giulio Andreotti, Hauptfigur von Paolo Sorrentinos gleichnamigem Film (fd 39 228). Auch dort stand eine entrückte Figur im Mittelpunkt, ein Nosferatu der Politik, im Anzug mit hochgezogenen Schultern. Nun ist es ein in obligatorisches Schwarz gegossener Nosferatu des Rock’n’Roll der härteren Gangart. Doch damit hören die Parallelen zwischen beiden Figuren auf: Während Sorrentino Andreotti als eitlen Gockel auf der Bühne der Macht bloßstellte, ist sein abgehalfterter Rock-Star trotz seiner exzentrischen Maskerade eine Figur, die niemandem etwas vormacht, offen ist wie ein Kind. Ein bisschen erinnert die Reise, von der der Film erzählt, an Bill Murrays Suchbewegung in „Broken Flowers“ (fd 37 208). Wie Jim Jarmusch scheint auch Sorrentino nichts dem Zufall zu überlassen. Durchgeplant und arrangiert bis ins kleinste Detail sind seine Szenen, überlegt ist jedes kleine Haarsträhne-Pusten von Sean Penn, jeder Ausbruch in sein hohes Kichern. Wie beim gleichnamigen Song-Cover geht es um die Suche nach Identität, nach Beheimatung in einer Welt, in der Original und Remake, Bild und Abbild, Authentizität und Künstlichkeit ineinander oszillieren. Cheyenne ist ein Produkt der Unterhaltungsindustrie, wandelndes Abbild einer bestimmten Musik- und Popkultur, und trotzdem ein glaubwürdig-liebenswerter, lebensvoller Charakter. Darin ähnelt der Film mit all seinen ausgeklügelten Totalen und Plansequenzen seiner Hauptfigur: Ihre Künstlichkeit wirkt nicht seelenlos, vielmehr erfüllen sie Regisseur wie Hauptdarsteller mit Leben. Viele Bilder dieses skurrilen Road Movies fühlen sich als Verweise vertraut an; so rührend und zugleich expansiv ist der Soundtrack von David Byrne, dass man sich im uramerikanischsten aller Genres sofort zu Hause fühlt. Das erzählt aber nichts von der Weite der Landschaft, sondern von den kleinen Gesten ihrer Bewohner und vom Staunen angesichts der schieren Schönheit oder aber Seltsamkeit der Welt. Wohlig möchte man sich in diese Bilderdecke einkuscheln. Friedlich legt sich diese Decke über die Geschichte einer Rache, die nicht von Hass befeuert wird, sondern von der Sehnsucht und Neugier eines erwachsenen Kindes, das die Welt nicht mehr zu verstehen scheint und doch alle in seinen Bann zieht.
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