Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 92 (24 B./sec.)/89 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Miriam Fassbender

Außergewöhnlicher Dokumentarfilm über zwei junge Schwarzafrikaner, die sich von Mali und Kamerun aus quer durch die Sahara kämpfen, um sich von Marokko aus nach Europa schleusen zu lassen. Eine hautnahe Konfrontation mit dem Schicksal afrikanischer Migranten, wobei es um die zermürbenden Umstände der jahrelangen Flucht, aber auch um die Motive hinter der Migration geht: Ein Leben zwischen Hetze und Hoffnung, Flucht und Stillstand, das mit einer allseitigen Entfremdung erkauft wird. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Max Milhahn Prod.
Regie
Miriam Fassbender
Buch
Miriam Fassbender
Kamera
Miriam Fassbender
Musik
Christof Vonderau
Schnitt
Andreas Landeck · Andrea Schönherr
Länge
92 (24 B.
sec.)
89 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
25.04.2013
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Oben, unten, „Beng“ und „Co“: Die Orientierung Richtung Europa hat sich nicht nur in die Sprache der afrikanischen Migranten eingegraben. Ihr ganze Existenz ist darauf ausgerichtet: „Beng“ ist oben, ein Bengi einer, der es geschafft hat, in Spanien oder Frankreich (zumeist „illegale“) Arbeit zu finden. Die Cos dagegen sind die von unten, das in europäischer Perspektive namenlose Heer der Wirtschaftsflüchtlinge, die ihr noch junges Leben riskieren, um den Sprung über das Meer zu schaffen. Die Dokumentaristin Miriam Faßbender gibt in „Fremd“ zwei von ihnen ein Gesicht und erzählt von den Mühen ihres Schicksals, die besten Jahre für einen Traum zu riskieren, der nicht das Paradies, sondern lediglich ein Auskommen verheißt. Denn auch oben sind sie unten; darüber gibt sich hier keiner Illusionen hin; doch der soziale Druck, der auf den Migranten lastet, ist enorm. So hat Mohammeds Familie ihre Rinder verkauft, um die 1500 Euro aufzubringen, die sein Transfer auf die Kanaren kostete. Dort fiel er aber der Grenzpolizei in die Hände, weshalb er es jetzt ein zweites Mal auf dem Landweg versucht, von Mali über Algerien und Marokko bis nach Spanien zu gelangen. 3000 Kilometer quer durch die Sahara, mit dem Bus und zur Not auch per Fuß. Das Geld dafür muss Mohammed unterwegs erst verdienen. In Mali erhalten Tagelöhner 1,50 Euro; in Algerien werden 5 Euro gezahlt. Allerdings kostet die Fahrt durchs arabische Land auch sechsmal so viel wie in Mali, was sich unterm Strich auf viele Monate harter Feldarbeit und die stete Sorge vor der Polizei summiert, von den vielen Formen offener Fremdenfeindlichkeit gar nicht zu sprechen. Das Schlimmste ist allerdings nicht der Kampf um Geld und Brot, sondern das zermürbende Warten auf eine Gelegenheit, die nächste Grenze zu überwinden. Monatelang campiert Jerry aus Kamerun in den Wäldern bei Maghnia unter Plastikplanen, weil die Schleichwege nach Oujda von der marokkanischen Polizei kontrolliert werden; der Stillstand zehrt an den Nerven der Männer, Hunger und Durst treiben sie manchmal bettelnd in den Ort; ihre dünne Kleidung bietet kaum Schutz vor den kalten Nächten. Endlich in Nador, der Hafenstadt, setzt sich das quälende Warten fort; der Nachspann informiert, dass Jerry beim Versuch, das Mittelmeer zu durchschwimmen und Mohammed beim Einschiffen entdeckt und abgeschoben wurden; Monate später sind sie wieder in Nador und warten auf einen neuerlichen Anruf der Schlepper. „Fremd“ ist allerdings kein Doku-Drama und auch kein Spielfilm wie jüngst „Die Piroge“ (fd 41 640,) sondern ein außergewöhnlicher, herausfordernder Dokumentarfilm, dessen Produktion sich über einen Zeitraum von sechs Jahren erstreckte. Statt malerischer oder auch nur orientierender Totalen geht die Inszenierung mit ihren Protagonisten auf Tuchfühlung; Mohammed und Jerry erzählen direkt in die Kamera, denken über ihr Leben nach oder filmen bisweilen selbst mit Mini-DVs das, was ihnen auf ihren Irrfahrten widerfährt. Darüber gelingt es auch filmisch, eine Ahnung von den Strapazen und Anfechtungen zu vermitteln, denen Mohammed bei seiner zweieinhalbjährigen Flucht Richtung Europa ausgesetzt ist. Drei Fragen quälen ihn auf seiner Odyssee, zu der er aus eigenem Antrieb nie aufgebrochen wäre: Ob er auf dem Meer enden wird? An sein Ziel gelangt? Oder ausgewiesen wird? Alles andere ordnet sich dem unter, muss sich ihm unterordnen, weil zuhause so viele auf seine Hilfe warten. Der Preis für diese Existenz ist eine allseitige Entfremdung, was der Filmtitel pointiert angedeutet: eine (zumindest aus europäischer Sicht) radikale Entwurzelung, die beim Verlust der Heimat und ihrer Lebensmuster beginnt, durch rassistische Stigmatisierungen führt und in eine Ortlosigkeit mündet, deren passagerer Charakter keine postmoderne Lässigkeit ausstrahlt. „Fremd“ gewährt einen erschütternd nüchternen Blick in ein Dasein, das denen „oben“ nahezu unbekannt ist.
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