Drama | Bulgarien/Deutschland 2011 | 97 (24 B./sec.)/93 (25 B./sec.) Minuten

Regie: Viktor Chouchkov

Vier Jugendliche aus Bulgarien verdienen zu sozialistischen Zeiten ihr Geld mit West-Pornos und träumen von einer besseren Zukunft. Einer von ihnen verliebt sich in die Tochter eines Geheimdienstlers; damit zieht er sich den Zorn eines eifersüchtigen Kumpels und des erbosten Vaters zu. Die Flucht in den Westen bringt genauso wenig das erhoffte Glück wie die spätere Rückkehr nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, weil die alten Eliten noch immer die Strippen ziehen. Mit gesellschaftskritischen Spitzen gespickter Buddy- und Coming-of-Age-Film, dessen Geschichte über Desillusionierungen, echte Liebe und mangelnde Solidarität überall verstanden wird. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TILT
Produktionsland
Bulgarien/Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Chouchkov Brothers/ostlicht filmprod.
Regie
Viktor Chouchkov
Buch
Viktor Chouchkov · Borislav Chouchkov
Kamera
Rali Ralchev
Musik
Viktor Chouchkov
Schnitt
Kostadin Kostadinov · Zoritsa Kotseva
Darsteller
Yavor Baharoff (Stash) · Radina Kardzhilova (Becky) · Georgi Staykov (Katev) · Ovanes Torosian (Gogo) · Ivaylo Dragiev (Angel)
Länge
97 (24 B.
sec.)
93 (25 B.
sec.) Minuten
Kinostart
09.05.2013
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Lighthouse (16:9, 1.78:1, DD5.1 bulg./dt.)
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Diskussion
Große Träume, kalt erwischt: Bulgariens 140.000-Zuschauer-Blockbuster des Jahres 2011 schickt eine Skater-Gang durch die abenteuerlichen Wendejahre 1989-1991. Mit großem Erinnerungswert, aber fern aller Retro-Romantik – denn in „Tilt“ gehören diejenigen zu den Wendegewinnern, die es auch vorher schon am besten drauf hatten, ihr Schäflein ins Trockene zu bringen. Im sozialistischen Bulgarien schlugen sich Stash, Gogo, Angel und B-Gum mit dem heimlichen Verkauf von West-Pornos durchs Leben. Hart am Rande der Legalität und von den Autoritäten misstrauisch beäugt, verbringt die jugendliche Viererbande den Alltag in ihrem Treffpunkt, einem abgelegenen Keller, dessen bestes Einrichtungsstück ein Flipperautomat aus den 1980er-Jahren ist. Man flippert zusammen und träumt davon, irgendwann mal gemeinsam unter dem Namen „Tilt“ ein Café an der Oberfläche der Stadt aufzumachen. Doch wenn der Apparat tilt, hat man zu dolle gerüttelt, wie Stash seiner neuen Freundin Becky erklärt, und dann heißt es „Game Over“. Und genau das scheint Stash zu passieren: Mit Becky hat er sich ausgerechnet die Tochter des korrupten Geheimdienst-Oberst Katev angelacht. Der hält genauso wenig von der Romanze wie Nebenbuhler B-Gum, und so kommt es zu einer Allianz zwischen dem Polit-Funktionär und dem rebellischen Teenager, mit dem Ziel, Stash aus dem Weg zu räumen. Der flieht mit Gogo und Angel auf der Suche nach der Freiheit über die DDR, wo inzwischen die Mauer gefallen ist, nach Westdeutschland, endet aber in einem „Kaff, das schlimmer ist als ein Gefängnis in Bulgarien“. Nachdem auch in Bulgarien der Sozialismus offiziell abgeschafft worden ist, kehren die Freunde zurück und müssen feststellen, dass die alten Drahtzieher noch immer an den Strippen sitzen. Nur, dass jetzt der Mercedes statt der Wolga vor der Haustür parkt und Dunkelmänner und Wendehälse eng zusammengerückt sind, um gemeinsam die Kontrolle auszuüben. Der erste Spielfilm von Viktor Chouchkov junior, entstanden als bulgarisch-deutsche Ko-Produktion, gibt sich keinerlei Illusionen hin. Chouchkovs Underdogs versagen sich die gegenseitige Solidarität genauso wie der Haufen rauhbeiniger Exilbulgaren im nordhessischen Exilantenwohnheim, sobald es darum geht, ein kleines Stück vom großen Kuchen abzubekommen. So nimmt auch „Tilt“ ein Stück weit Mafia-Klischees von haargegelten jungen und dreitagebärtigen älteren Männern mit, fokussiert sich aber auf die Romeo-und-Julia-Geschichte zwischen dem Kioskverkäuferinnen-Sohn Stash, Spross der unteren Klasse, und Becky, Funktionärstochter mit reinem Herzen. Das funktioniert dank des frischen Zusammenspiels des jungen Darstellerensembles (dessen Authentizität leider unter der deutschen Synchronisierung etwas leidet), der dynamischen Bildgestaltung von Kamera-Profi Rali Ralchev und einer eingängigen Dramaturgie, die sich am Buddy-Movie statt an düsterer Verzweiflungsmetaphorik orientiert. So schaffte es „Tilt“ vor zwei Jahren an die Spitze der bulgarischen Kino-Charts, direkt hinter die selbstironische Komödie „Mission London“ über die Gschaftlhubereien eines Regierungsabgesandten, der das durch die Korruptionsaffären eines bulgarischen Botschafters angeschlagene Image des damaligen EU-Neulands reparieren sollte. Damit standen in Bulgarien damals gleich zwei Filme in der Publikumsgunst ganz oben, die sich ausgesprochen despektierlich über die Moral ihrer politischen Elite äußern. „Tilt“ bringt die biografischen Wende-Erfahrungen einer Generation auf den Punkt, die heute, im Alter zwischen 40 und 50, auf die Träume der Jugend, auf Freiheitsdrang und die Gier nach Westware, auf den Verlust der inneren Solidarität und eine korrumpierende Goldgräberstimmung zurückblickt, deren kriminelle Energie bis heute nachwirkt und eine tiefgehende Demokratisierung verhindert. Ein Film, dessen zentrale Sujets über verlorene Träume, echte Liebe und falsche Freundschaften aber auch unabhängig vom nationalen Kontext lesbar sind. Weil „Tilt“ es schafft, hinter den Kulissen des mafiösen Machtpokers vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs eine publikumsaffine Coming-of-Age-Story zu entwickeln, deren Held zwar am Ende seinen Traum von der Freiheit mit dem Gefängnis bezahlen muss, aber die innere Stärke behalten hat.
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