Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 80 Minuten

Regie: Arend Agthe

Dokumentation über den ehemaligen DDR-Bürger Erhard Schelter, der 1974 gemeinsam mit einem Freund die Ostsee durchschwamm, um in den Westen zu gelangen. Dem charismatischen Protagonisten gelingt es, mit seinen Erinnerungen Anteilnahme an seinem Schicksal zu wecken, wobei kurze Spielszenen die psychischen Anspannungen der Fluchtvorbereitungen sinnfällig illustrieren, ohne den dramaturgischen Fluss der auch mit dokumentarischem Foto- und Filmmaterial sowie Zeitzeugen-Interviews angereicherten Reflexion über die deutsche Geschichte und ihre zerstörerischen Folgen zu stören. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Herzfeld Productions/OPAL Filmprod.
Regie
Arend Agthe
Buch
Arend Agthe
Kamera
Hanno Hart
Musik
Matthias Raue
Schnitt
Oliver Schnekenbühl
Darsteller
Björn Bugri (Erhard Schelter) · Christian Arnold (Volker Hameister) · Lisa Adler (Frau hinterm Tresen) · Michael Ihnow (VoPo-Offizier) · Steffen Czech (Mann am Kneipentisch)
Länge
80 Minuten
Kinostart
16.01.2014
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Zwei Männer robben, bedeckt von einer sandfarbenen Plane, in Taucheranzügen über den nächtlichen Strand. Die Lichtkegel der Suchscheinwerfer streifen sie, ohne sie zu erfassen. Dann gleiten sie langsam ins Wasser und nehmen Kurs aufs offene Meer. Schnitt. Ein gesetzter älterer Mann sitzt an ebenjenem nun sonnenbeschienenen Strand und erzählt seine Geschichte, die aus dem vermeintlich fiktionalen Fluchtabenteuer der ersten Sequenz in einen nicht minder spannenden Dokumentarfilm mündet. 34 Jahre war der 1940 auf Rügen geborene und in Rostock aufgewachsene Erhard Schelter damals alt, als er mit dem zehn Jahre jüngeren Volker Hameister die Flucht in den Westen wagte. Allerdings verließen Hameister schon drei Stunden später die Kräfte. Schelter legte ihm einen Schwimmkragen um und zog ihn hinter sich her. Im Morgengrauen entdeckte sie ein westdeutsches Fährschiff, das sie gerade noch rechtzeitig vor einem heranbrausenden Boot der DDR-Küstenwache aufnahm. Vier Jahre später holte Schelter, der mittlerweile auf seinem Rettungsschiff als Schiffelektroniker arbeitete, Frau und Sohn in die Bundesrepublik nach. Doch die Trennung und die Repressalien der Stasi gegen seine Familie haben Spuren hinterlassen. Die Ehe ging in die Brüche. Auch Hameister fand seine Träume nicht erfüllt und brach in den 1980er-Jahren in die Karibik auf. Arend Agthe, der sich bislang vor allem als Kinder- und Jugendfilmer (u.a. „Flußfahrt mit Huhn“, fd 24 474, „Karakum“, fd 30 960) einen Namen machte, zeigt Interviews mit Schelter, seiner Schwester, seiner ersten Frau, ihrem gemeinsamen Sohn und Zeitzeugen, etwa einem bei der Flucht behilflichen Arzt, dem Kapitän des Fährbootes, einem Juristen der Gauck-Behörde und Wolf Biermann. Dazwischen sind kurze Spielszenen geschnitten, die die psychische Anspannung der Flucht nachempfinden lassen. Die sehr zurückhaltend inszenierten Szenen stören jedoch nie den Erzählfluss von Schelters Erinnerungen, die zusätzlich mit Aufnahmen aus den Fotoalben der Protagonisten, Wochenschauaufnahmen und anderem dokumentarischen Material unterlegt sind. „Über das Meer“ ist aber nicht nur die Geschichte einer Flucht, sondern handelt auch von den politischen Umständen in der DDR. Schelter konnte nicht tun, was er wollte, nämlich zur See zu fahren. 14 Mal bewarb er sich bei der deutschen Seereederei in Rostock. Doch da er weder aus einer Arbeiter- und Bauernfamilie stammte und seine Eltern auch nicht der „Intelligenz“ angehörten (der Vater war im Dritten Reich Berufssoldat), hatte er keine Chance. Die wollte ihm die Stasi bieten, die ihn als „IM“ umgarnte – und dann mittels eines fingierten Unfalls zu eliminieren trachtete, da er sich ihrem Ansinnen immer wieder entzog. In den Stasi-Akten taucht er dennoch als „IM“ auf; bei der Gauck-Behörde konnte er lediglich eine Gegendarstellung zu Protokoll geben. So gesehen wirft der Film nicht nur einen Blick zurück, sondern reflektiert kritisch den Umgang mit dem Stasi-Nachlass. Im Mittelpunkt der spannenden Dokumentation steht allerdings stets Erhard Schelter, dessen ungekünsteltes Charisma viel Empathie auslöst, weshalb man ihm und seinen Erzählungen gerne zuhört.
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