Dokumentarfilm | Österreich/Deutschland/Russland/Großbritannien 2016 | 91 Minuten

Regie: Peter Stephan Jungk

Dokumentarfilm, mit dem sich der Regisseur auf die Spuren seiner Großtante begibt, der Fotografin Edith Tudor-Hart (1908-1973), die in ihren Werken ihren aufmerksamen, empathischen Blick mit ihrem sozialkritischen Engagement in Einklang brachte. Das „Familiengeheimnis“ besteht darüber hinaus darin, dass Tudor-Hart als passionierte Kommunistin von London aus als KGB-Spionin tätig war. Der spannende, an Fakten und Geschichten überbordende Film rekonstruiert in einer Mischung aus Archiv-Recherche, Zeitzeugen-Interviews und animierten Sequenzen die faszinierende, ebenso widersprüchliche wie tragische Lebensgeschichte von Edith Tudor-Hart, bringt die herausragende Künstlerin nachhaltig in Erinnerung und fragt zugleich kritisch nach den Ursachen ihrer politischen „Schwärmerei“ und deren weitreichenden politischen Folgen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
AUF EDITHS SPUREN
Produktionsland
Österreich/Deutschland/Russland/Großbritannien
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Peartree-Entertainment/Transmitter Film
Regie
Peter Stephan Jungk
Buch
Peter Stephan Jungk
Kamera
Jerzy Palacz
Musik
Rupert Huber
Schnitt
Bettina Mazakarini
Länge
91 Minuten
Kinostart
09.11.2017
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm über die Fotokünstlerin und Spionin Edith Tudor-Hart

Diskussion
Die österreichisch-britische Fotografin Edith Tudor-Hart (1908-1973) war eine der bedeutendsten Künstlerinnen ihrer Zeit. Erst eine große Ausstellung ihrer Werke im Wien Museum 2013 entriss sie dem Vergessen und lenkte die Wahrnehmung auf ihre meisterliche Bildgestaltung, in der ihr empathischer Blick und ihr sozialkritischer Impetus zur Balance fanden. Unter ihrem Mädchennamen Edith Suschitzky registrierte sie wachsam die sozialen und politischen Verhältnisse in ihrer Geburtsstadt Wien zwischen den Weltkriegen, nach 1933 schuf sie in Großbritannien eindrucksvolle Sozialreportagen, fotografierte in den Slums von London oder in den Kohlerevieren in Wales, wo sie die Arbeitswelt ebenso einfing wie die Arbeiter selbst, ihre Protestmärsche gegen die Arbeitslosigkeit. Ihr Arbeitsgerät, eine mittelformatige Rolleiflex-Kamera, trug Edith Tudor-Hart vor dem Bauch, blickte von oben in den Sucher und komponierte ihr Bild quasi im Dialog mit den Menschen, die sie fotografierte. Vor allem bleiben ihre Bilder von Kindern in Erinnerung, deren aufmerksame, anrührend optimistische und lebenszugewandte Blicke im krassen Gegensatz zu der tiefen Armut stehen, in der sie aufwachsen. Allein über all diese großartigen Fotografien im Quadrat hätte sich bereits ein dokumentarischer Film drehen lassen. Doch der Mensch hinter der Künstlerin hat noch eine weit umfassendere Lebensgeschichte zu bieten: Edith Tudor-Hart war eine leidenschaftlich überzeugte Kommunistin – und wurde zu einer bedeutenden KGB-Spionin im Dienst der Sowjetunion. Mit allen Konsequenzen, Abstürzen und Fehltritten. Und mit einer Idee, die „den Lauf der Weltgeschichte verändern sollte“: Sie rekrutierte den legendären britischen Doppelagenten „Kim“ Philby. Der österreichische Dokumentarfilmer Peter Stephan Jungk ist ein Nachkomme der jüdischen Künstlerfamilie Suschitzky, die Verleger, Schriftsteller, Musiker, Fotografen und Tänzerinnen hervorbrachte, allesamt geprägt von ihrem tief in Wien verwurzelten generationenübergreifenden sozialen Engagement. Edith Tudor-Hart war Jungks Großtante, ihr Bruder der Fotograf und Kameramann Wolfgang Suschitzky, der 2016 im Alter von 104 Jahren starb und bei Jungk einer von vielen einfühlsam befragten Zeitzeugen ist; mit leiser, gebrechlicher Stimme legt er Mosaiksteine aus dem Leben seiner Schwester offen, das für Jungk lange Zeit ein gehütetes Familiengeheimnis war. Auf den Spuren seiner Großtante entdeckt er nun die junge Montessori-Kindergärtnerin, die Bauhaus-Studentin in Dessau, die virtuose Fotografin, die Komintern-Botin und schließlich die erfolgreiche KGB-Spionin. Detektivisch beharrlich fügt er seine Archiv-Fundstücke zusammen und ergänzt sie mit Aussagen illustrer Zeitzeugen und Weggefährten, Historiker und Ex-Agenten zum spannenden Porträt einer außergewöhnlichen, vitalen, am Ende dann tragisch scheiternden Frau. Und immer wieder stellt sich ihm die Frage, was Edith Tudor-Hart zu ihrer unbezahlten, „ehrenamtlichen“ Spionagetätigkeit veranlasst haben mag – und stößt immer wieder auf ihren ideologischen Eifer, mit dem sie sich rückhaltlos, schwärmerisch bis zur Verklärung für diese von den Machthabern missbrauchte Ideologie einsetzte. Ebenso liebevoll wie kritisch verhält sich Jungk gegenüber seiner Verwandten, wobei er nach filmisch lebendigen Formen sucht, mit denen er die Partikel der Vita anspruchsvoll, aber unterhaltsam vermitteln kann. So fließen Fotografien in schwarz-weiß animierte Spielsequenzen mit atmosphärischem Spionagefilm-Flair, oft bedient sich Jungk auf der Klangebene einschlägiger Thriller-Klänge, was mitunter zwar befremdlich und allzu „populär“ klingt, aber doch eine gewisse Leichtigkeit in die Schwere des Materials und die bedrückende Tragik des Lebenswegs von Edith Tudor-Hart bringt. Dieser kulminiert in den Jahren des Zweiten Weltkriegs, als sie den Physiker Engelbert „Bertl“ Broda (einen ihrer Geliebten) an den KGB vermittelte, den „Atomspion“, der den Russen wichtige Informationen zum Bau ihrer eigenen Atombombe verschaffte. Die daraus resultierende Frage bleibt in der Schwebe: War dies ein „Friedensdienst“, der das Gleichgewicht der Mächte wahrte, den Kalten Krieg besser als einen „heißen“ Krieg erscheinen ließ? Vielleicht hätte Jungk für seinen spannenden, an Fakten und Geschichten überbordenden Dokumentarfilm einen künstlerisch konsequenteren Zugriff finden können; wenn er am Ende respektvoll resümiert, dass die Fotografien von Edith Tudor-Hart die Zeit überdauert hätten, dann wünscht man sich, dass sich sein Film (noch) tiefer in deren poetische und sozialkritische Gestaltungskunst hineinbegeben und die Bilder selbst zum erzählerischen Movens gemacht hätte. Das aber mag anmaßend sein angesichts einer mitreißenden Lebensgeschichte, die grundsätzlich erzählt werden musste. Edith Tudor-Hart und ihr faszinierendes, durchaus widersprüchliches Lebenswerk so unterhaltsam und erhellend aufzubereiten, das verdient allerhöchsten Respekt.
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