Dokumentarfilm | Schweiz 2019 | 82 Minuten

Regie: Yu Hao

2005 zog die Chinesin Yu Hao in das 2000-Seelen-Dorf Urnäsch im Kanton Appenzell Ausserrhoden und begann ihre Umgebung mit der Kamera zu filmen. Daraus entstanden im Verlauf von zehn Jahren über 200 Stunden Material als Dokumente ihres Heimischwerdens in der Fremde und ihrer Integration, aber auch als Zeugen ihrer Neugierde auf Menschen und eines feinen Sinns für eine noch stark von Brauchtum geprägte Region. Die Vielfalt und Warmherzigkeit ihrer Aufnahmen bietet dabei nicht nur eine Liebeserklärung an das neue Zuhause der Regisseurin, sondern thematisiert auch die schmerzhafte Trennung von der alten Heimat und verweist über das Einzelbeispiel hinaus auf allgemeine Prozesse der Loslösung in der globalisierten Moderne. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
PLÖTZLICH HEIMWEH
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Hao Prod.
Regie
Yu Hao
Buch
Yu Hao
Kamera
Yu Hao
Musik
Tobias Preisig
Schnitt
Fabian Kaiser
Länge
82 Minuten
Kinostart
27.02.2020
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Eine ehemalige chinesische Fernsehreporterin erforscht nach ihrem Wegzug in ein Dorf in der schweizerischen Provinz ihre neue Heimat mit der Kamera und dokumentiert neben Begegnungen mit einzigartigen Menschen auch ihre eigene Integration.

Diskussion

Als Yu Hao, zehn, vielleicht auch zwölf Jahre nach ihrem Wegzug in China zu Besuch weilt, fragt eine ihrer besten Freundinnen, ob sie inzwischen integriert sei in der Schweiz. Was sie darunter verstehe, fragt Yu Hao zurück. Ob sie Freunde habe, kommt die Antwort. Menschen, die sie liebe, und mit denen sie eine Geschichte teile, eine Vergangenheit verbinde. Es ist dies womöglich die emotionalste Szene in „Plötzlich Heimweh“. Weil sie unverblümt, aber auch feinfühlig auf den Punkt bringt, was Yu Hao seit Jahren beschäftigt, und womit sie sich in ihrem Film ausgehend vom eigenen Erleben und der eigenen Biografie auseinandersetzt: Die Frage nach der Zugehörigkeit. Nicht dem Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb einer Partnerschaft – Yu Hao ist 2005 aus Liebe nach Urnäsch gezogen, doch ihre Beziehung mit dem Schweizer Ernst Hohl ist nur am Rande Thema dieses Films –, sondern der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft, einer Gruppe von Menschen und der Verbundenheit mit einem Ort, einer Landschaft oder einer Region.

Die Frage und das nachgeschobene „Komm doch so schnell als möglich zurück“ treiben Yu Hao die Tränen in die Augen. Nicht dass sie sich ihren chinesischen Freundinnen und ihrer Familie, die sie oft lange nicht sieht, nicht mehr verbunden fühlt. Auch scheinen ihr die Orte, Straßen und Plätze in China vertraut. Doch, sagt Yu Hao, nicht zur Freundin, sondern als Kommentatorin des eigenen Erlebens kurz davor oder danach im Film, sie könne sich nicht mehr vorstellen, in China alt zu werden.

Und plötzlich packt sie, die als Kind mit den Eltern öfters umzog und als junge Erwachsene beim Fernsehen angestellt als Reporterin für China aus aller Welt berichtete und sich dabei stets nur Menschen, aber nie Orten zugehörig fühlte, ein Gefühl, das sie davor nicht kannte. Eine Art Sehnsucht. Das Bedürfnis nach Hause zu gehen, in einem Moment, in dem das nicht möglich ist, weil 8000 Kilometer dazwischenliegen, sofort ins Appenzellische Urnäsch zurückzukehren.

Über 200 Stunden Material aus zwölf Jahren

Yu Hao arbeitet in „Plötzlich Heimweh“ in Rückgriff auf ihr eigenes Erleben und auf über 200 Stunden Filmmaterial, die sie im Laufe von zwölf Jahren gedreht hat. Bei ihrer Ankunft in der Schweiz des Deutschen nicht mächtig, benutzte sie die Kamera anfänglich, um ihr Umfeld zu erkunden, es war dies auch ein Mittel, um mit den Menschen in Kontakt zu treten und zu kommunizieren. Im weitgehend chronologisch aufgezogenen Film zu sehen ist, was ihr dabei ins Auge stach. Die wildhügelige Berglandschaft. Brauchtum und Tradition, die im Appenzellischen vielleicht noch stärker als anderswo in der Schweiz gelebt werden. Die Bauweisen alter Häuser. Der Einheimischen Verbundenheit zu Natur und Umwelt. Die zum Teil urtümliche Lebensweise „wie vor hundert Jahren“, die auf abgelegenen Höfen noch heute praktiziert wird und welche die großstadtgewöhnte und früher oft hibbelige Hao in ihrer Schlichtheit und durch ihre Bedächtigkeit fasziniert.

Episodisch eingeflochten finden sich im Film Begegnungen mit Menschen. Wiederholte Besuche bei Johann Hautle, der im Alpstein weitab vom nächsten Dorf einen Hof betreibt und in seiner freien Zeit seinen eigenen Alltag in Ölbildern festhält. Die Begegnungen mit Chläus Anderegg, der sich 13-jährig im Sommer alleine um die Kühe auf der Alp seiner Eltern kümmert, beim Vieh auch übernachtet und schon heute ganz genau weiß, was er dereinst werden will: Bauer. 

Dazu die Besuche und Gespräche mit dem Bauer Ruedi Manser, welcher – der Natur so tief verbunden wie seinem Glauben – zu Weihnachten alle seine Tiere, aber auch die Gebäude auf dem Hof, einem alten Ritual folgend, segnet. Mit dem Künstler Ueli Alder, der behauptet, in der falschen Zeit geboren zu sein und mit alten Fotoapparat-Ungetümen das Appenzellerland auf Celluloid bannt. Nicht zuletzt mit Elsa Preisig, die so leidenschaftlich gern, wie sie sich um ihre Enkel kümmert, nach altem Rezept die als Lebkuchen-Spezialität bekannten „Appenzeller Biber“ backt.

Ausgeprägter Sinn für visuelle Schönheit

Yu Haos Blick ist zu Beginn der einer Fremden, einer Touristin, die mit ausgeprägtem Sinn für eine visuelle Schönheit – aber wohl ohne deren tiefere Bedeutung zu verstehen – Brauchtümer und traditionelle Feste festhält: die Rocksäume der Trachten und Rosenkränze in der Händen der Frauen bei einer kirchlichen Prozession. Die Schnitzereien auf den Kopfbedeckungen und die Gewänder der zur Neujahrszeit umziehenden Silvesterkläuse. Das von fern festgehaltene, via Handhochalten funktionierende Abstimmungsprozedere bei der Appenzeller Landsgemeinde. Später werden diese in den Jahresverlauf eingeschriebenen, im Film wiederkehrend gezeigten Ereignisse mit Kommentaren versehen, gegen Ende finden sie sich in collageartigen Passagen montiert: Eine hübsche Idee, das Vergehen der Zeit im Laufe und Rhythmus der Jahre zu demonstrieren.

Unterlegt hat Yu Hao ihren Film mit einem persönlichen Kommentar. Keinem Tagebuch, sondern einer Art chronologischer Aufzeichnung ihrer sich im Laufe der Jahre verändernden persönlichen Befindlichkeit. Auch wenn sie selber das Wort Integration dabei nur zögernd in den Mund nimmt, ist „Plötzlich Heimweh“ im Kern genau das: Die Schilderung eines Ankommens und sich Verwurzelns in der Fremde, die Yu Hao ihrer Liebe folgend sich zum neuen Lebensort erkoren hat. Damit einhergehend, aber im Alltag weniger präsent gefühlt, die allmähliche Entfremdung von der früheren Heimat.

So radikal persönlich „Plötzlich Heimweh“ in diesem Ansatz ist, verweist er in der Reflexion seiner Protagonistin, die zugleich Regisseurin ist und ihre Kommentare selbst einspricht, hinaus auf eine Erfahrung, die in der heutigen Zeit viele mit ihr teilen dürften. Nicht nur, weil in den letzten Jahrzehnten kriegs- und notbedingte Migration weltweit zugenommen hat. Sondern auch, weil die globalisierte Welt immer mehr moderne (Arbeits-)Nomaden hervorbringt und weil – aber das wird hier nur am Rande gestreift – die moderne Telekommunikation und soziale Medien den Menschen eine emotionale Nähe vorgaukeln (oder vermitteln), die in der Wirklichkeit des gelebten Alltags kein Äquivalent findet.

Der Versuch, in China Abschied zu nehmen

So kann denn auch Yu Hao, die seit 2006 im Haus Appenzell – einer in Zürich ansässigen, auf die Vermittlung Ostschweizer Kultur spezialisierten Kulturstiftung – als Kuratorin arbeitet, ihren alten Oma nicht spontan einen Besuch abstatten, als diese erkrankt, sondern ihr bloß einen Rosenkranz schicken. Monate später erst steht sie dann am Grab in China und versucht, Abschied zu nehmen. Doch wirklich gelingen wird es ihr erst zurück in der Schweiz. Spätestens dann, wenn Yu Hao sich gegen Schluss des Filmes hinter der Kamera hervorbegibt und man sieht, wie sie von den umziehenden Silvesterkläusen herzlich begrüßt wird und sie diesen, wie es der Brauch verlangt, einen Trank anbietet, ist Yu Hao in ihrer neuen Heimat angekommen, oder eben: integriert. Und dies obwohl sie, wie es im Film einmal heißt, mit ihrem Aussehen im Appenzellischen immer die Fremde sein wird.

„Plötzlich Heimweh“ ist ein bodenständig ehrlicher, wunderschön fotografierter, kluger und bisweilen witziger (Schweizer) Film, der zwischendurch durch die Musik von Tobias Preisig, ergänzt durch traditionellen Jodelgesang und Volksmusik, auch ganz hübsch ins Ohr geht.

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