Dokumentarfilm | Deutschland 2021 | 101 (TV auch: 54) Minuten

Regie: Enrique Sánchez Lansch

Über zehn Jahre lang begleitet der Film die Arbeit des britischen Musikers und Sampling-Artisten Matthew Herbert, der mit selbst gesampelten Alltagstönen intellektuelle Tanzmusik erschafft, mit der er das Bewusstsein der Zuhörer schärfen will. Im Kern geht es dabei ums konzentrierte und genauere Hören, aus dem politische Konsequenzen erwachsen. Ein äußerst sorgfältig gemachter Film über Neugier, Sorgfalt und Kreativität, die sich Alltagsgeräuschen mit derselben Aufmerksamkeit widmet wie etwa dem Spätwerk von Gustav Mahler. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Kloos & Co. Medien
Regie
Enrique Sánchez Lansch
Buch
Jim Birmant · Johannes Stjärne Nilsson · Ola Simonsson
Kamera
Charlotta Tengroth
Musik
Fred Avril · Magnus Börjeson
Schnitt
Stefan Sundlöf · Andreas Jonsson Hay · Ola Simonsson · Johannes Stjärne Nilsson
Länge
101 (TV auch: 54) Minuten
Kinostart
02.09.2021
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Über zehn Jahre lang begleitet der Film die Arbeit des Musikers und Sampling-Artisten Matthew Herbert, der mit selbst gesampelten Tönen komponiert und dadurch das Bewusstsein der Zuhörer schärfen und politisieren will.

Diskussion

Ehrlich gesagt: Lange nichts mehr gehört von Matthew Herbert! Die Zeiten, als seine Veröffentlichungen als DJ, Produzent, Bandleader und Sampling-Artist von einer größeren Öffentlichkeit wahrgenommen wurden, liegen schon etwas länger zurück: „Around the House“ (1998), „Bodily Functions“ (2001), „Goodbye Swingtime“ (2003), „Plat du jour“ (2005), „Mahler Symphony X recomposed“ (2010) oder „One Pig“ (2011) waren seinerzeit auf eine etwas verschrobene Art ziemlich hip. Politische Tanzmusik, basierend auf gesampelten Geräuschen. Andererseits konnte ein Konzert der Matthew Herbert Big Band auch ziemlich nervig ausfallen. Big Band Jazz, eher konservativ, präsentiert mit dem ulkig-britischen Habitus von Monty Python und einer extra Portion politischer Didaktik, die sich allerdings nicht musikalisch, sondern verbal vermittelte.

Das ist alles ein bisschen kompliziert. Intellektuelle, kollektiv produzierte Nachkriegsmusik, hintersinnig politisiert und damit von ihrem konservativen Ruf befreit. Im Booklet der Alben, in den Moderationen von Herbert und eventuell auch in den Samples versteckten sich unendlich viele Informationen, die auf die Neugier der Endverbraucher setzen: Da werden die Seiten politischer Bücher umgeblättert und sollen Geräusche von Epson-Druckern an Kinderarbeit in der sogenannten Dritten Welt erinnern. Damit man auch versteht, was man hört, setzt der politische Musiker Herbert auf ein ganz altes Medium: die Schrift und das Wort. Man musste die kommentierten Begleittexte lesen und dem Künstler zuhören, um die subversive Subtilität des Projektes in Gänze zu erfassen.

Das Knacken beim Zahnziehen

Das ist in der Tat alles schon etwas länger her. Insofern ist „A Symphony of Noise“ als Wiedervorlage sehr zu begrüßen, weil die Ideen und Konzepte und das Selbstverständnis Herberts noch immer äußerst reizvoll sind und eine größere Öffentlichkeit verdient haben. Der Dokumentarist Enrique Sánchez Lansch begleitete Matthew Herbert zehn Jahre lang bei seinen Konzeptentwicklungen, Sound-Forschungen und konzertanten Auftritten und befragte ihn zu seiner Ästhetik. Das Resultat dieser Langzeitbegleitung präsentiert einen Künstler, der sich explizit politisch versteht, aber zugleich mit einem Humor ausgestattet ist, der die teilweise sehr abstrakten Konzepte immer wieder erdet und selbstironisch abfedert.

So steht ein Auftritt im Berliner Techno-Club Berghain am Beginn des Films, wo Herbert mit seiner Band den Dancefloor befeuern soll, aber durchaus auch die Geräusche erklärt, aus denen seine Musik montiert ist. Eines davon ist das Knacken, als Herbert ein Zahn gezogen wurde. Dieser Sound wird jetzt zum Teil eines Tracks, der für die Hörer und Tänzer nach Herberts Erläuterung durch das Mehr-Wissen schmerzhaft kontaminiert ist.

Herbert beklagt die Limitationen konventioneller Klangerzeugung, in der die Musik nach Wegen sucht, um als Simulation von etwas zu klingen. Die Kunst der Mikrofonie erlaubt es ihm hingegen, mit der Welt zu interagieren und an Orte zu führen, die sonst im Verborgenen blieben. Mit den Möglichkeiten des Samplers verfügt er überdies über die größte Klaviatur überhaupt, nämlich über alle Klänge des Planeten. Der Kreativität sind damit keine Grenzen gesetzt; andererseits braucht es künstlerische Konzepte, wenn man nicht lediglich eidie Ambience verdoppeln will.

Am Vinyl klebt Blut

Wie klingt es, wenn ein Baum gefällt wird, im Inneren des Baumes? Und dramaturgisch weitergedacht, gilt es beim Komponieren mit gefundenen Sounds nicht nur an den Bruch, das Drama, den Konflikt oder das Ereignis zu denken. Denn nachdem der Baum gefällt wurde, bemerkte Herbert in der Natur eine ungewöhnliche Stille, die vielleicht spektakulärer ist als das Geräusch des fallenden Baumes. An anderer Stelle erklärt er, dass er als politisch bewusster Künstler sehr wohl Teil des Problems und Teil des zu bekämpfenden Systems sei, weil er zwar ökologisch sensibel agiere, aber als Musiker trotzdem auf Langstreckenflüge angewiesen sei. Mehr noch: Für die Hüllen seiner Platten würden Bäume gefällt, am Vinyl klebe das Blut des Irakkriegs und die Steuern, die er zahle, stecke seine Regierung in den Waffenhandel.

Den romantischen Mythos des leidenden Künstlers mag Matthew Herbert aber nicht bedienen. Trotzdem ist es spannend mitzuerleben, wie er sich empathisch und improvisierend mit seinen künstlerischen Mitteln Gustav Mahlers 10. Sinfonie nähert und die Musik mit Texturen, Referenzen und Kontexten um die Begriffe Verlust und Aufbruch anreichert und re-komponiert. Ein schönes Bild für seine Arbeit liefert Herbert gleich mit: Sie sei ein Puzzle ohne (Vor-)Bild, bei dem erst im Verlauf klar werde, wie viele Teile es habe.

Später, bei der kritischen Auseinandersetzung des geborenen Europäers (Jahrgang 1972) mit dem Brexit und Fragen der Identität, wird ein Fish & Chips-Laden mikrofoniert, eine Trompete frittiert, ein gemischter Chor in Berlin zu mehr Vulgarität angehalten und insgesamt viel gelacht und geflucht.

Konzentriert und genau hinhören

Der äußerst sorgfältig gemachte Film hält sehr schön die Balance zwischen Neugier, Genauigkeit, Reflexion und selbstironischem Gestus, wie sie auch seinem Gegenstand zu eigen ist. Vom großzügigen Drohneneinsatz einmal abgesehen. Matthew Herbert wäre schon dankbar, wenn es ihm gelänge, Menschen dazu anzuhalten, in einer sehr lauten Welt einfach mal konzentriert und genau hinzuhören. Wenn dieses genaue Hinhören dann auch noch das Bewusstsein schärfen und politische Konsequenzen in Herberts linkem Sinne zeitigen würde, wäre das zu begrüßen, wenngleich als Resultat nicht vorhersehbar. Als alternative Option bleibt immerhin die Wieder- oder Neuentdeckung der Alben von Matthew Herbert.

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