Drama | USA 2015 | 103 Minuten

Regie: Patrick Wang

Das Leben einer amerikanischen Familie gerät durch den Tod ihres jüngsten Kindes aus dem Gleichgewicht, das kurz nach der Geburt stirbt. Jedes Mitglied der Familie, die neben Mutter und Vater aus einer Tochter im Grundschulalter, dem älteren Bruder und einer Halbschwester aus der ersten Ehe des Mannes besteht, ist auf eigene Weise unglücklich. Ein einfühlsames, zurückhaltendes und elliptisch entwickeltes Ensemble-Drama, das die Suche seiner Protagonisten nach Methoden zur Trauerbewältigung elegant mit der Suche nach filmischen Mitteln zur Darstellung von Trauer verzahnt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE GRIEF OF OTHERS
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
In the Family/Vanishing Angle
Regie
Patrick Wang
Buch
Patrick Wang
Kamera
Frank Barrera
Musik
Aaron Jordan
Schnitt
Elwaldo Baptiste
Darsteller
Wendy Moniz (Ricky Ryrie) · Trevor St. John (John Ryrie) · Rachel Dratch (Madeleine Berkowitz) · Chris Conroy (Lance Oprisu) · Jenna Cooperman (Fiona)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Drama um eine amerikanische Familie, deren Mitglieder nach dem Tod ihres Neugeborenen auf unterschiedliche Weise mit der Trauer ringen.

Diskussion

Nur für kurze Zeit lebt das Baby, und der Film schaut durch seine Augen in die Welt. Hinter einem roten Schleier sind unscharf Gesichter zu erkennen, Frauen mit sanftem Blick. Krankenhausapparaturen piepen rhythmisch. Dann nur noch Schwärze. Gleich zweimal versetzt „The Grief of Others“, der zweite Spielfilm des US-amerikanischen Regisseurs Patrick Wang, den Zuschauer in die Perspektive eines Neugeborenen kurz vor seinem Tod. Mit Anenzephalie auf die Welt gekommen, ist sein Körper nur für wenige Stunden lebendig. Was drastisch klingt, wie auf Horror und Schock ausgelegt, wirkt im Film geradezu zärtlich. Das Drama erzählt von einem schrecklichen und unvermeidbaren Verlust, und von einer Familie, die mit diesem Verlust leben muss. Und so wie die Eltern und Geschwister des Kindes nach einer neuen Ordnung für ihr Leben suchen, erprobt der Regisseur Formen und Perspektiven, um von Trauer zu erzählen.

Im Kino ist uns der Schmerz der anderen weniger egal

„The Grief of Others“ – basierend auf der gleichnamigen Romanvorlage von Leah Hager Cohen – macht deutlich, dass ein Film über Trauer immer auch ein Film über die Darstellung und Wahrnehmung von Trauer ist. Zu oft besteht nicht nur eine Diskrepanz zwischen der wirklichen Erfahrung und den ästhetischen Mitteln, die Muster und Schablonen können sogar anmaßend gegenüber dem Leiden sein. Sie erzeugen die Illusion von Vergleichbarkeit und Vertrautheit. Überspitzt formuliert: Im Kino ist uns der Schmerz der anderen weniger egal, weil wir ihn schon kennen. Weil wir ihn längst als unseren eigenen, vielleicht sogar universellen Schmerz erkannt haben, der nur zufällig einem anderen zustößt.

Zu Wangs Strategien gehört eine elliptische Erzählweise, die zunächst viele Informationen vorenthält. Der Film erschlägt und überwältigt nicht mit der bleiernen Schwere der Trauer, sondern macht sie im Alltag erfahrbar. Wie eine Filmszene ohne Totale wächst die Handlung aus disparaten Eindrücken zusammen. Eine davon ist die Perspektive des Babys. An die Stelle einer klaren Hauptfigur tritt, wie so oft bei Wang, ein Ensemble. Er erzählt von geteiltem Leid, das für viele Menschen viele Formen annimmt, und vor allem da sichtbar wird, wo sie aufeinandertreffen.

Biscuit (Oona Laurence), die jüngste Tochter der Familie Ryrie, beginnt die Schule zu schwänzen. Einmal setzt sie etwas in Flammen. Als sie in einem Park eine Art Trauerritual vollführt, wird sie dabei von einem großen Hund in den Hudson River gestoßen. Retter und Hundebesitzer Gordie Joiner (Mike Faist) hat erst vor kurzem seinen Vater verloren. Plötzlich findet er sich im Wohnzimmer der Ryries wieder, lernt Familienvater John (Trevor St. John) und Mutter Riley (Wendy Moniz) kennen. Sohn Paul wird in der Schule gemobbt, seine Halbschwester Jessica ist selbst schwanger.

Über die Mühen der Trauerarbeit

Nun lässt Wang sie einander trösten und beschimpfen, zeigt sie einsam und in Gruppen. Er schafft ein besonderes Gefühl für die Räumlichkeiten, die sie sich teilen. Für die Satzfetzen der einen, die zu den anderen herüberwehen, den Tanz von Nähe und Distanz, den sie lange einstudiert haben und doch unsicher vorführen. Gerade wo sie sich an die Vergangenheit erinnern, arbeitet der Regisseur mit Doppelbelichtungen und sehr langsamen Überblendungen. Die alte Welt, in der die Verlorenen noch existieren, verschwindet nur zögerlich, muss sogar aktiv verdrängt werden. So entstehen aus einfachen Situationen Kristall- und Erinnerungsbilder, verunreinigt durch das Zusammenspiel von Vergangenheit, Gegenwart und Imagination. Der Schmerz des Verlustes ist hier nicht etwas, das man einfach nur loslassen muss. Stattdessen ist Trauerarbeit nötig, Rituale und Reflexion, und damit die Einrichtung einer neuen Welt mit neuen Regeln.

Die Menschen sind in Bewegung, die Kamera oft statisch. Wang neigt zur Dekadrierung, er lässt Dinge am Bildrand oder sogar im Off geschehen. Die Figuren halten sich gerade noch in den gesetzten Rahmen. Meist werden sie mit respektvollem Abstand betrachtet, das klassische Close-Up des Melodrams wird vermieden. Als Biscuit einmal aus Versehen etwas in Brand setzt, ist kaum zu erkennen, was genau passiert. Sichtbar ist nur sie, gerahmt zwischen Wänden. Wichtig ist weniger das Ereignis als vielmehr ihre Empfindungen und wie sie sich ausdrücken in Gestik und Mimik. Die Kamera ist selten da, wo man sie erwarten würde, aber die gewählten Einstellungen sind trotzdem nicht exzentrisch oder nach Aufmerksamkeit heischend.

Erinnerungsobjekte

Meist erfasst sie ganze Räume und gleicht sich damit einem Element der Handlung an: Der kürzlich verstorbene Vater von Gordie hat Dioramen gebastelt. Kleine Schaukästen aus Papier, Bindfäden, Farbe, Pappe und mehr. Sie stellen Szenen aus literarischen Werken oder Märchen dar, und ein Nebenstrang der Handlung zeigt, wie sie vor einem Schicksal im Müllcontainer gerettet und an eine Galerie überschrieben werden. Im Leben formen Menschen Objekte zu Erinnerungen. Sie tun das unbewusst, in dem sie etwa immer aus ihrer Lieblingstasse trinken, die ihren Kindern später einmal viel bedeuten wird. Oder sie schreiben bewusst ihre eigene Erfahrung in Objekte ein, indem sie Kunst schaffen.

Der auch als Theaterregisseur aktive Filmemacher hat ein besonderes Gespür für Raumkonstellationen. So kreiert er selbst kleine Schaukästen, nur dass er diese Räume im Film aus ihrer zeitlichen Erstarrung lösen kann. In einer Szene sehen wir Jessica, die eigentlich nichts Besonderes tut. Sie spült Geschirr, sie telefoniert, sie schaut sich ein Fotoalbum an. Sie nimmt sich ein Stück von der Torte, die sie gekauft hat, um den Ryries etwas Gutes zu tun. Gießt sich neuen Kaffee ein. Die Kamera blickt vom Küchentisch zu ihr hinüber, in den Raum hinein. Ein offener Raum mit offener Zeit.

Sie fließt vorüber, bis eine der Figuren begreift, dass Zeit vergangen ist. Gerade war Jessica seit 9 Wochen schwanger, jetzt sind es schon 11. Eben noch stand John vor einer Wand, die zur Hälfte rot gestrichen war, dann ist kein Fleck mehr weiß. Dazwischen liegt Arbeit, die der Film nicht immer zeigt. Die Trauer verschwindet natürlich nicht, weil die Zeit vergeht. So einfach ist es nie. Sie lässt nach, weil der Fluss der Zeit greifbar wird, weil richtungsloses Schwirren einem neuen Rhythmus weicht.

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