Kraft der Utopie - Leben mit Le Corbusier in Chandigarh
Dokumentarfilm | Schweiz 2023 | 84 Minuten
Regie: Thomas Karrer
Filmdaten
- Originaltitel
- KRAFT DER UTOPIE - LEBEN MIT LE CORBUSIER IN CHANDIGARH | LE CORBUSIER À CHANDIGARH: LA FORCE DE L'UTOPIE
- Produktionsland
- Schweiz
- Produktionsjahr
- 2023
- Produktionsfirma
- Karrer Multivision
- Regie
- Thomas Karrer · Karin Bucher
- Buch
- Karin Bucher
- Kamera
- Thomas Karrer
- Musik
- Atul Sharma
- Schnitt
- Fabian Kaiser · Mirjam Krakenberger · Thomas Karrer
- Länge
- 84 Minuten
- Kinostart
- 22.02.2024
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Dokumentarfilm
- Externe Links
- TMDB
Dokumentarfilm über die indische Stadt Chandigarh, die Anfang der 1950er-Jahre von dem Schweizer Architekten Le Corbusier als monumentale Planstadt erbaut wurde.
Gleich zu Beginn einer Autofahrt erscheint das Schild „Welcome to Chandigarh – The city beautiful“ am Eingang der indischen Planstadt Chandigarh, die offenbar ein Ort des puren Optimismus ist, eine gebaute Utopie nach den Plänen des legendären Architekten Le Corbusier. Sie war mit dem Schweizer Baumeister auf der alten Zehn-Franken-Note abgebildet. Nachdem sich Indien 1947 aus der britischen Kolonialherrschaft befreit hatte und die Teilung des Subkontinents in Indien und Pakistan erfolgt war, musste im indischen Teil der Provinz Punjab eine neue Verwaltungsstadt gebaut werden, da sich die Hauptstadt nun in Pakistan befand. Der erste Premierminister von Indien, Jawaharlal Nehru, erteilte persönlich den Auftrag zu dem monumentalen Bauvorhaben. Er wünschte sich eine neue Stadt, die der Freiheit Indiens symbolisch ein Denkmal setzen sollte, losgelöst von den Traditionen der Vergangenheit.
Für Le Corbusier bot diese Aufgabe die Möglichkeit, seine städtebaulichen Ideen und die Ideale der Moderne von Licht, Luft und Sonne in urbanen Ausmaßen anzuwenden. Er entwarf einen Lebensraum für 500 000 Menschen mit äußerem Grüngürtel und Alleen, die geometrisch angeordnet waren. Auch ein künstlicher See und eine ungewöhnliche Reihung von Regierungsgebäuden, der Chandigarh Capitol Complex, bereicherten seine Pläne. Das riesige Bauensemble aus Gericht, Parlament und Verwaltung gehört seit 2016 zum Weltkulturerbe, ist nach einem Selbstmordanschlag aber nur schwer zugänglich. Diese Entwicklung kontrastiert mit Le Corbusiers Vorstellungen von einer Architektur, die ein gesellschaftliches Miteinander garantiert. Ihm schwebte ein Gesamtkunstwerk vor, das sich seit 1953 dann tatsächlich einen Namen als liberaler Ort für Kunstschaffende machte.
Ein Labor fürs Zusammenleben
Das Konzept basierte auf einer menschenförmigen Ansammlung von Wohngebieten, öffentlichen Einrichtungen, Parks und Industriegebieten. Das Leben in der Stadt sollte „im Einklang mit der Natur“ gestaltet werden, als eine „bessere, gerechtere und harmonischere Welt“. Da inzwischen aber doppelt so viele Menschen in der realen Stadt leben, mussten an dem ursprünglichen Entwurf viele Veränderungen vorgenommen werden. Im Umland sind Slums entstanden, in die arme Menschen vom Land gezogen sind. Die Stadt interessiere sie als „Labor für ein neues Zusammenleben“, verkünden die Schweizer Regisseure Karin Bucher und Thomas Karrer aus dem Off, während die Kamera an brutalistischen Betonentwürfen und ihren Bewohnern entlanggleitet, mondänen Villen in der Innenstadt und zahlreichen Regierungsgebäuden.
Flankiert wird die Collage aus Archivbildern, Le-Corbusier-Zitaten, Interviews mit lokalen Künstlerinnen, Architekten und Stadtaktivist:innen von architektonischen Aufnahmen. Dass die Gebäude in ihrer Gesamtheit trotz des Zuzugs einer rasant wachsenden Bevölkerung, trotz Hitze und Monsun relativ gut erhalten sind, liegt am sogenannten Edikt von Chandigarh. Darin schrieb Le Corbusier akribisch vor, wie er sich die Pflege vorstellte und welche baulichen Veränderungen, wenn überhaupt, stattfinden dürfen. So durften weiterhin nur Beton, Ziegel und Stein als Baustoffe verwendet werden und blieben alle Bäume unter Schutz gestellt.
In „Kraft der Utopie“ kommen Studenten, Touristenführer, Gastwirte und nicht zuletzt auch Deepika Gandhi, die Direktorin des Le Corbusier Centre in Chandigarh, zu Wort. „Chandigarh wurde als Fußgängerstadt entworfen“, sagt sie. Le Corbusier passte seine heute etwas anachronistisch wirkende Idealstadt ans lokale Klima an. Der Architekt Siddhartha Wig hält sie für ein Museum und zweifelt an Corbusiers „Verständnis vom Kontext der Kultur, für die er entwarf“. Denn die indischen Architekten seines Teams hätten allesamt an westlichen Schulen studiert. Für Wig ist das aber nicht weiter problematisch. „Wir haben einen fremden Meister genommen und ihn zu unserem eigenen gemacht. Es nimmt unserer Identität nichts weg, sondern bereichert sie.“ Für manche Anhänger aktueller Identitätspolitik ist das eine provozierende Aussage, da sie gemeinsame humanistische Werte voraussetzt und nicht gleich einen Fall von Kulturimperialismus wittert oder den Versuch, Indien westliche Vorstellungen von Fortschritt aufzuzwingen.
Gewinner und Verlierer
Obwohl die Dokumentaristen von Le Corbusiers Ideen sichtlich fasziniert sind, dessen Motto „Die Utopie ist die Realität von morgen“ immer wieder zitiert wird, verklären sie die avantgardistische Vision nicht, sondern beschäftigen sich auch mit den Problemen der Stadt, etwa den steigenden Wohnungspreisen oder dem Verlust von öffentlichen Räumen. In diesen Szenen schlägt die Utopie in Dystopie um, da die baulichen Vorgaben nicht selten eine adäquate Anpassung verhindern und die Stadt zu einem exklusiven, wenig dynamischen Ort machen. Die Regierung überlegt deshalb inzwischen, das Edikt mit Beteiligung der Bevölkerung umzuschreiben. Gleichzeitig wird die aktuelle Aufbruchstimmung des global bevölkerungsstärksten Landes spürbar, das den Konkurrenten China mit neuen Flughäfen, Autobahnen und Eisenbahnstrecken zu übertrumpfen versucht. Ein Wachstum, das auch in Chandigarh Gewinner und Verlierer kennt.