Der Fall Cap Arcona

Dokumentarfilm | Deutschland 1995 | 89 Minuten

Regie: Günter Klaucke

Die auf Interviews und authentischem Material basierende Rekonstruktion eines Ereignisses am Ende des Zweiten Weltkrieges: die Bombardierung des Schiffes "Cap Arcona" durch britische Flugzeuge, bei der 7000 KZ-Häftlinge umkamen. Der Dokumentarfilm ist thematisch interessant und durchaus auch spannend, verschenkt aber wesentliche Möglichkeiten der metaphorischen Verdichtung und nimmt in Szenen der Überhöhung Zuflucht zu Klischees. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Cinetick/NDR
Regie
Günter Klaucke · Karl Hermann
Buch
Günter Klaucke · Karl Hermann
Kamera
Matthias Seldte
Länge
89 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Bis heute erinnern sich ältere Fischer: In den Jahren nach 1945 waren die Aale in der Lübecker Bucht besonders fett, aber niemand wollte sie essen. Die schreckliche Vermutung wurde nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen: Hatten sich die Tiere von Menschenfleisch ernährt? Am 3. Mai 1945 flog die Royal Air Force ihren letzten großen Luftangriff des Zweiten Weltkrieges. Ziel der Bomber waren Schiffe in der Lübecker und Kieler Bucht. Die Engländer nahmen an, daß sich Wehrmachts- und SS-Angehörige auf diesen Schiffen nach Norwegen absetzen und wie in einer Festung verschanzen wollten, um den Krieg zu verlängern. Doch auf der "Cap Arcona" und der "Thielbeck", die allein von acht Jagdfliegern ins Visier genommen wurden, befanden sich keine nazistischen Durchhaltefanatiker, sondern rund 7.000 KZ-Häftlinge aus dem Lager Neuengamme. Die meisten von ihnen fanden jetzt, kurz vor dem Ende des Krieges, den Tod.

"Der Fall Cap Arcona" rekonstruiert dieses Ereignis, an das zu erinnern jahrzehntelang eher vermieden wurde. Die Deutschen schwiegen, weil der Vorgang mit unerhörter eigener Schuld belastet war. Offiziere und Soldaten halfen mit der Verschiffung der KZ-Gefangenen, einen Befehl Himmlers vom April 1945 vorzubereiten: "Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen." Vermutlich hätte die SS die Schiffe noch eigenhändig versenkt. Aber auch die Briten legten, verständlicherweise, nach Ende der Kämpfe keinen Wert auf die Popularisierung des Falles "Cap Arcona". Der Kommandant der Bomberstaffel verschwand spurlos während seines späteren Einsatzes in Korea. Und die Akten blieben in den Regalen. Dort findet sich, nach den Recherchen der Filmemacher, im übrigen kein Beleg dafür, daß man in London Kenntnis von den KZ-Transporten hatte. Im Tagesrapport vom 3. April 1945 las man dementsprechend von einem "Angriff, der nur als brillant bezeichnet werden kann ... Im Hinblick auf die Menschenmassen und im Hinblick auf die Lage kann man nur annehmen, daß viele Hunnen heute die Ostsee sehr kalt fanden".

Klaucke und Hermann haben für ihren Film fünf Zeitzeugen interviewt: zwei ehemalige Häftlinge und drei frühere Besatzungsmitglieder. Zu den Männern, die als KZ-Insassen auf die "Cap Arcona" gepfercht worden waren, gehörte der Schauspieler Erwin Geschonneck, der sich detailliert an diese Tage erinnert; er hatte darüber bereits ausführlich in seinen Memoiren geschrieben. Und fürs Fernsehen der DDR war, mit ihm in der Hauptrolle, schon vor über zehn Jahren ein dokumentarischer Spielfilm über das Geschehen entstanden: "Der Mann von der Cap Arcona" (Regie: Lothar Bellag). Nun faßt er Gefühle von damals - und heute - noch einmal zusammen: "Solange ich lebe, werde ich das nie vergessen und werde es jedem mitteilen, wie das war." Zurückhaltender ist Francis Akos, ein bekannter, in Chicago lebender Violinist, der zwar nicht dem Vergessen das Wort redet, wohl aber dem stummen Gedenken: Auch die bewußt gesuchte Stille kann Kraft zum Überleben geben. Dem ehemaligen Schiffsjungen der "Cap Arcona", einem jetzt fast 70jährigen Mann, liegen die Erinnerungen wie Steine auf der Seele; nicht nur einmal bricht er vor der Kamera in Tränen aus.

Richtig und wichtig, daß die Filmemacher auch über die Suche nach Schuldigen reflektieren. Die Lübecker Staatsanwaltschaft befragte in den vergangenen Jahren rund vierhundert mögliche Zeugen - und stieß weitgehend auf eine Mauer des Schweigens. Aber ist es wirklich vergessen, daß U-Boot-Schüler nach der Bombardierung zwar SS-Mannschaften der "Cap Arcona" aus dem eiskalten Wasser zogen, doch zugleich auf schwimmende Häftlinge schossen? Hat man tatsächlich verdrängt, daß man die verzweifelten Schreie von der untergehenden "Cap Arcona" bis nach Neustadt hören konnte, aber nur wenige Boote ablegten, um zu helfen? Schuldig, so Klaucke und Hermann, wurden damals nicht nur die Männer in Uniform.

So spannend ihre Recherchen, so aufregend die Montage der Erinnerungen, so zwiespältig geraten den Autoren des Films jene Szenen, die der Überhöhung dienen, "Atmosphäre" schaffen sollen. Daß die Tore von Güterwagen ins Schloß fallen und diese Waggons ins Nirgendwo gleiten, ist als symbolisches Bild längst zum Klischee geronnen. Überflüssig auch, daß die Kamera im Halbdunkel um einen Schauspieler in SS-Uniform kreist, während man aus dem Off Auszüge aus Verhörprotokollen der Nachkriegszeit hört. Die "einfacheren", weniger gestellten und gestelzten Lösungen sind besser: so, wenn Francis Akos auf seiner Violine spielt, plötzlich ein harter Schnitt folgt und die Kamera an den Mauern und Gittern des Lagers Neuengamme entlangfährt, mit der Geigenmelodie als kontrastierendem Hintergrund. Schade ist indes, daß sich die Regisseure eine große Chance zur metaphorischen Verdichtung des Materials entgehen ließen. Auf der "Cap Arcona" war 1942 Herbert Selpins Katastrophenfilm "Titanic" gedreht worden. Das teilen Klaucke und Hermann zwar mit und zeigen auch ein paar Szenen aus diesem legendären Spielfilm - aber diese Sequenzen gewinnen dramaturgisch nie die Funktion, die ihnen bei geschickter Montage zugekommen wäre: die eines emotionalen, gleichnishaften Kommentars.
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