Die Hoffnung des „Mostra“-Direktors Alberto Barbera, mit dem Filmfestival in Venedig der Filmbranche neuen Mut einzuflößen, ist glänzend aufgegangen. Das Festival ächzte zwar unter den Corona-Bedingungen, feierte aber das Kino und die Filmkunst – und überraschte auch dadurch, dass acht von 18 Wettbewerbsfilmen von Frauen inszeniert worden waren. Den „Goldenen Löwen“ gewann das Road Movie „Nomadland“ von Chloé Zhao.
Es war eine ungewöhnliche „Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica“ (2.9.-12.9.2020). Corona-bedingt fehlten auf dem Lido Star-Rummel und Hollywood-Blockbuster. Statt als Startrampe für „Oscar“-Kandidaten zu dienen, überwogen Arthouse-Filme, sehr viel europäisches Kino, Kriegsthemen und Gegenwartsbezüge. Vor allem aber war das Festival von Frauen geprägt. Nicht nur, dass acht von 18 Wettbewerbsbeiträgen von Regisseurinnen stammten; auch auf der Leinwand dominierte das sogenannte schwache Geschlecht. Schon zu Beginn setzte Pedro Almodóvar zusammen mit Tilda Swinton ein Zeichen, die mit einem „Goldenen Löwen“ für ihr Lebenswerk geehrt wurde. Almodóvars eigenwillige Interpretation des von Jean Cocteau bereits 1928 geschriebenen Einakters „Die menschliche Stimme“ gab den Takt vor. In nur 30 Minuten entblößt sich eine Schauspielerin am Rande des Nervenzusammenbruchs, die nach einem missglückten Suizidversuch ein letztes Telefongespräch mit ihrem Geliebten führt, der sie verlassen will. Ihre Angst vor dem Altern und vor der Einsamkeit ist unmittelbar greifbar; sie erniedrigt sich und bettelt, um dann rigoros die gemeinsamen Erinnerungen samt Designer-Wohnung abzubrennen. Mit neuem Selbstbewusstsein verlässt sie die Stätte der Demütigung und stellt sich der Welt und ihren Herausforderungen. Wäre dieses cineastische Schmuckstück nicht ein Kurzfilm „außer Konkurrenz“, hätte Swinton dafür den Darstellerinnenpreis verdient gehabt!
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Die Qualität der meisten Beiträge bei der 77. „Mostra“ war bis auf wenige Ausnahmen, etwa „Laila in Haifa“ von Amos Gitai oder „Amants“ von Nicole Garcia, sehr beachtlich; die Jury stand vor einer diffizilen Wahl, was sich in teilweise recht absurd wirkenden Kompromissen bei der Preisentscheidung niederschlug. Schon im Vorfeld hatte Jurypräsidentin Cate Blanchett die Hoffnung geäußert, dass einmal wieder eine Filmemacherin den „Goldenen Löwen“ gewinnen sollte. Ihr Wunsch ging in Erfüllung. Die US-Produktion „Nomadland“ gewann die begehrte Trophäe. Die in China geborene Regisseurin Chloé Zhao erzählt in ihrem dritten, sehr poetischen Film von der 61-jährigen Fern, die nach dem Tod ihres Mannes und der Schließung der nahegelegenen Mine ihre Stadt in Nevada verlässt und mit ihrem klapprigen Van unterschiedlichsten Menschen begegnet. Eine verschworene Gemeinschaft von Einzelgängern, die sich gegenseitig unterstützt. Frances McDormand, die den Film auch mitproduziert hat, verkörpert in diesem leisen Porträt eine mit Trauer kämpfende Frau, die nur langsam loslassen lernt und ihre Unabhängigkeit findet, mit einer ins Herz treffenden Perfektion. Sie sei nicht „homeless“, wie sie sagt, sondern „houseless“, eine bewusste Entscheidung. Die Authentizität des Films beruht nicht zuletzt auf den Nomaden der Straße vor der Kamera und denen, die ihre Schicksale vertrauensvoll erzählen; dazu kommt eine großartig fotografierte Landschaft von den Badlands in South Dakota über die Wüste Nevadas bin hin zum Pazifik im Nordwesten des Landes. Bei der Preisverleihung grüßten Chloé Zhao und Frances McDormand per Video aus einem Van in Pasadena und verabschiedeten sich mit dem Nomadengruß „See you down the road“.
Die britische Schauspielerin Vanessa Kirby galt nach ihrer Darstellung in Kornél Mundruczós englischsprachigem Debüt „Pieces of a Woman“ für den Preis der besten Schauspielerin als gesetzt. An der Seite von Shia LaBeouf durchleidet sie als taffe Geschäftsfrau einen Albtraum; sie verliert bei einer Hausgeburt nach einem kurzen Glücksmoment ihr Kind. An dieser Tragödie zerbricht nicht nur ihre Beziehung, sondern auch ihr Leben, das in tausend Stücke zerspringt. Die Qualen der Geburt dauern ohne Schnitt mehr als 30 Minuten und werden von Kirby als schauspielerische Tour de Force intensiv vermittelt. Das Drama basiert auf persönlichen Erfahrungen des ungarischen Regisseurs und seiner Partnerin und Drehbuchautorin Kata Wéber und fragt danach, wie man so eine Tragödie überleben kann. Auch in Mona Fastvolds historischem Drama „The World to Come“ überzeugte die 32-jährige Vanessa Kirby als US-Siedlerin, die Mitte des 19. Jahrhunderts mit ihrer Nachbarin (Katherine Waterston) bald mehr verbindet als nur Sympathie und Freundschaft.
Die „Coppa Volpi“ für den Besten Schauspieler ging an den Italiener Pierfrancesco Favino für seine Darstellung in „Padrenostro“ von Claudio Noce. Die bewegende Geschichte einer Familie, in der ein zehnjähriger Jungen 1976 Zeuge eines Attentats durch Linksterroristen auf seinen Vater wird und fortan in Angst lebt, ist ein Stück italienischer Vergangenheit. Noce legt immer wieder falsche Fährten und schrammt bisweilen auch am Kitsch vorbei. Mattia Garaci und Francesco Gheghi hätten den „Marcello-Mastroianni-Preis“ für den Besten Nachwuchsdarsteller aber ebenso verdient gehabt wie Rouhollah Zamani, der in „Khorshid“ (Sun Children) von Majid Majidi ein Straßenkind spielt.
Die „Mostra“ bleibt zweigeschlechtlich
Im Zusammenhang mit den Schauspielerpreisen lehnt Festivaldirektor Alberto Barbera den Entschluss der „Berlinale“, künftig genderneutral nur noch die Besten Schauspielerischen Leistungen auszuzeichnen, für die „Mostra“ kategorisch ab: „Ich wüsste nicht, warum wir nur noch einen Preis statt zwei vergeben sollten.“ Damit steht er nicht allein; Branche und Presse befürchten, dass eine solche Reduzierung neue Diskriminierung zur Folge hat. Gewinnt ein Mann, könnte das zum Skandal hochgespielt werden, gewinnt eine Frau, heißt es vielleicht schnell, dass sie nur wegen ihres Geschlechts gewonnen habe.
Das umstrittenste Werk des Festivals wurde mit dem „Silbernen Löwen“, dem „Großen Preis der Jury“, ausgezeichnet: Michel Francos verstörender Blick auf das Mexiko der Zukunft in „Nuevo Orden“ (New Order). Was mit Plünderungen und blutigem Protest ausgebeuteter Indigener gegen die Reichen beginnt, endet in einem Militärputsch und in einer Gewaltorgie mit Vergewaltigung, Folter und Erschießungen. Das eigentliche Ziel, der Kampf gegen soziale Ungleichheit und die Ungerechtigkeit einer Zweiklassengesellschaft, verschwindet komplett aus dem Fokus. Eine spekulative und menschenverachtende Gratwanderung. Für Franco hat die Wirklichkeit die bereits vor sechs Jahren entwickelte filmische Dystopie längst überholt. An „Nuevo Orden“ irritiert allerdings der unterschwellige Voyeurismus, etwa wenn die Kamera sich genüsslich lange auf nackte, mit Wasser abgespritzte Frauenkörper richtet. Die aus dem Ruder laufende Rebellion missbraucht der Film für heftige Schock- und Schreckensbilder. Es scheint gewagt, den Plot mit Bewegungen wie „Black Lives Matter“, den französischen Gelbwesten oder der Demokratiebewegung in Hongkong in Verbindung zu bringen.
Auch der „Silberne Löwe“ für die Beste Regie an das verzwickte Drama „Wife of a Spy“ von Kiyoshi Kurosawa, das in den frühen 1940er-Jahren vor dem Eintritt Japans in den Zweiten Weltkrieg spielt, erschließt sich nicht unmittelbar. Ein Geschäftsmann erfährt auf einer Reise in die Mandschurei von Menschenversuchen mit biochemischen Waffen und will die Beweise ins Ausland schaffen. Seine Frau verrät ihn aus Eifersucht an ihren Jugendfreund beim Militär. Doch ist es wirklich Verrat oder nur eine Chance, aus Japan zu entkommen? Der delikate Mix aus Film Noir, Thriller und feinstem Ausstattungskino schlägt immer neue Haken, weshalb man am Ende nicht weiß, ob die Flucht eine ausgeklügelte Strategie oder ein Befreiungsschlag des Mannes von alter Liebe und altem Leben ist?
Der russische Altmeister Andrej Kontschalowski arbeitete sich mit dem konservativ inszenierten Drama „Dorogie Towarischi!“ (Dear Comrades) in brillantem Schwarz-weiß an einem von KGB und Militär niedergeschlagenen und offiziell verschwiegenen Arbeiteraufstandes in Nowotscherkassk im Jahr 1962 ab. Wie eine überzeugte Stalinistin den Verrat an den kommunistischen Idealen erlebt und den Zusammenbruch eines Mythos, das könnte durchaus auch auf Parallelen zur Gegenwart hinweisen. Eine diesbezügliche Frage erboste Kontschalowski beim Interview aber so sehr, dass er den Journalisten wütend zum Gehen aufforderte. Ob der „Spezialpreis der Jury“ für den 83-jährigen Regisseur zwingend notwendig war? Der Drehbuchpreis ging an den Inder Chaitanya Tamhane für „The Disciple“ über einen jungen Musiker auf der Suche nach Perfektion, die in einen Vater-Sohn-Konflikt eingebettet ist.
„Quo vadis, Aida?“ wurde bei den Preisen übergangen
Unverständlich ist, dass Jasmila Žbanić und ihr ergreifendes Drama „Quo vadis, Aida?“ bei den Preisen der internationalen Jury übergangen wurden. Sie hätte für ihre Erzählung um die Lehrerin Aida jeden Preis verdient gehabt; die als Übersetzerin für die Blauhelme ertragen muss, wie die serbischen Soldaten des Generals Ratko Mladić unter den Augen der hilflosen holländischen UN-Truppen über 8000 Bosnier im Juli 1995 in Srebrenica erschießen. Das auf wenige Tage konzentrierte Geschehen zählte zu den emotionalsten Filmen der 77. „Mostra“; die überzeugende Hauptdarstellerin Jasna Duricić hätten ebenfalls die „Coppa Volpi“ verdient; aber auch Drehbuch, Inszenierung und politische Relevanz ragten deutlich heraus. Ein Schrei gegen das Vergessen, , der nur bei der Jury des katholischen Weltverbands SIGNIS Gehör fand und deren Preis erhielt.
Julia von Heinz’ Drama „Und morgen die ganze Welt“ ging bei der starken Konkurrenz leer aus; zum Trost gab es den Preis der unabhängigen Filmkritik „Bisato d’Oro“ für Hauptdarstellerin Mala Emde. Preiswürdig wäre aber auch „Miss Marx“ von Susanna Nicchiarelli gewesen, der von Eleanor, der jüngsten Tochter des Philosophen handelt, einer engagierten Sozialistin und Feministin, die an ihrer lieblosen Ehe scheitert. Interessant daran ist, wie die Regisseurin die klassische Narration durch Punkmusik, Tanzeinlagen und dokumentarisches Material durchbricht. Filmische Köstlichkeiten wie Orson Welles’ „Hopper/Welles“ oder Giuseppe Pedersolis „The Truth About La dolce vita“ liefen derweil nur „außer Konkurrenz“.
Alberto Barbera hat das für unmöglich Gehaltene geschafft, in Pandemie-Zeiten ein großes internationales Festival auf die Beine zu stellen, physisch und nicht hybrid oder digital. Anfänglich hakte es mit dem Online-Ticketing; die Überprüfung der Körpertemperatur an den Eingängen war lästig, ebenso die Maskenpflicht auf dem gesamten Areal inklusive der Filmvorführungen. Bedauerlicherweise blieben spontane Programmwechsel oder unvermutete persönliche Kontakte so auch auf der Strecke. Und auch der Sichtschutz auf den Roten Teppich trug nicht gerade zur Festivallaune bei. Zu einem lebendigen Festival gehören Publikum, Euphorie und Hysterie, Glamour und Stars, die im Blitzlichtgewitter Autogramme geben, sowie begeisterte Fans, auch wenn es cineastischen Puristen vor solchen Umtrieben graut. Nichts davon existierte in der Ausnahmesituation dieses Corona-Jahres.
Dafür gab es zusätzliche Kinos (sogar in Venedig und Mestre) sowie eine Verdoppelung der Vorführungen, da immer ein Sitz zwischen den Besuchern frei bleiben musste. Nur etwa die Hälfte der sonst akkreditierten 3000 Journalisten war an den Lido gereist; viele Filmeinkäufer und Verleiher verzichteten unter diesen Bedingungen ebenfalls auf die Reise. Doch statt des erwarteten Chaos gab es eine fast perfekte Organisation, und für alle Unbequemlichkeiten entschädigte das lang vermisste und so wunderbare Gefühl, endlich wieder an einem Filmfestival teilnehmen zu können. Dass die 77. „Mostra“ in gedämpfter, aber guter Stimmung überhaupt stattfand, darf als großer Erfolg für das Kino und seine Vitalität gelten. Bei der Programmvorstellung hatte Barbera gesagt, dass er der Filmindustrie „ein starkes Zeichen der Solidarität“ vermitteln wolle. Das ist gelungen. Mille Grazie, Signore Barbera!
Alle Berichte zum 77. Venedig Filmfestival 2020:
- Venedig 2020: Die Preise und Auszeichnungen
- Schmeißt eure Handys weg. Beobachtungen und Trends beim Filmfestival in Venedig
- Ein Festival gegen die Wirklichkeit, in der wir gerade leben. Impressionen zum Auftakt
- Kino gegen die Krise. Ein Überblick über das Programm der 77. "Mostra"
- Filmkritik zu „Und morgen die ganze Welt“
- Ann Hui – Die Chronistin. Ein Porträt der Regisseurin