Von der #BlackLivesMatter-Plaza ins koloniale Togo. Das „Forum Expanded“-Programm der „Berlinale“ geizte nicht mit expliziten filmischen Interventionen in die politischen Diskurse unserer Zeit. Vor allem drei Filme reflektierten dabei über Möglichkeiten und Grenzen von Symbolpolitik und insistierten auf den gründlichen Blick in die Geschichte, um die Gegenwart zu verstehen.
Zu Anfang ist nur eine gelbschwarze Fläche zu sehen, dann ein paar elegante Bewegungen über diese Fläche hinweg. Wenige Minuten später ist „May June July“ von Kevin Jerome Everson schon wieder vorbei; viel mehr ist darin auch nicht passiert. Dennoch hat sich das Gelb als Sprühfarbe und das Schwarz als Asphalt zu erkennen gegeben, und die Bewegungen als ein schwarzer Rollschuhfahrer, der seine Kreise auf jenem riesigen „Black Lives Matter“-Schriftzug zieht, der im Sommer 2020 in Washington D.C. auf eine Straße hinter dem „Weißen Haus“ gesprüht wurde – die mittlerweile offiziell „#BlackLivesMatter-Plaza“ heißt.
Kevin Jerome Everson, ein 1985 in Mansfield, Ohio, geborener Filmemacher, dessen Werk bereits neun Lang- und über 180 Kurzfilme vereint – war einer der prominenteren Namen im „Forum Expanded“-Programm der „Berlinale“, jener Sektion, die sich experimentellen filmischen Formen zuwendet und Arbeiten an der Schnittstelle von Performance, Installation und Ausstellungskunst präsentiert. Zugleich ist es die Sektion, die am direktesten eine Nähe zu aktuellen politischen Diskursen sucht. Auch in diesem Jahr waren viele der Filme von einem politischen Begehren durchzogen, das mal mehr und mal weniger explizit artikuliert wurde.
„May June July“ ist durchaus bezeichnend für dieses Programm, weil er das Verhältnis von Zeichen und Welt umkreist und mit einem Beispiel materialisierten Protests nach Möglichkeiten und Grenzen von Zeichenpolitik fragt. Die politische Forderung ist im wahrsten Sinne des Wortes „concrete“ (Englisch für Asphalt) geworden, ein Untergrund für neue Bewegungen; oder ist nicht auch der Plaza selbst nur ein Symbol? Der Rollschuhfahrer trägt eine Stoffmaske, auf der „For the Greater Good“ steht; in zwischengeschnittenen Bildern sieht man Pfingstrosen vor nächtlichem Hintergrund, Glühwürmchen, zarte Pflänzchen, vorsichtige Lichter am Ende eines Tunnels. Auch filmische Interventionen sind zunächst einmal Interventionen von Zeichen.
Das Koloniale in der Gegenwart
Zwei andere Filme im „Forum Expanded“-Programm machen eindrücklich sichtbar, dass das Zeichen „#BlackLivesMatter“ für eine lange und komplexe Geschichte steht, in der schwarze Leben eben nicht zählten, eine Geschichte der Gewalt, die bis heute fortwirkt. So verwebt der kongolesische Filmemacher Petna Ndaliko Katondolo in „Kapita“ Archivbilder der Vergangenheit und dokumentarische Bilder der Gegenwart miteinander, um die Kontinuität kolonialer Ausbeutung sichtbar zu machen und über die Fallstricke dieser Sichtbarmachung nachzudenken. „Kapita“ stellt historische Aufnahmen der Ausbeutung schwarzer Körper in den Kupfer- und Kobaltminen des kolonialen Kongo aktuellen Szenen aus den Coltan- und Niobiumminen des Landes gegenüber, zwei zentrale Metalle für die Herstellung unserer technischen Geräte. Die Bilder werden nicht einfach präsentiert, sondern digital zerrissen, ins Negative umgestülpt, manipuliert, bearbeitet.
Wie könnten sie auch einfach nur Dokumente sein, wenn schon die Kameralinse derart auf weiße Körper geeicht war, dass schwarze Menschen tendenziell zu Flächen anstatt zu Körpern werden? Helfen uns die Bilder, sagen sie etwas, das wir nicht ohnehin wissen, oder wie bekommen wir mehr aus ihnen heraus? Wo liegt in ihnen die Macht, und wo der Widerstand? „Kapita“ gibt nicht vor, auf diese Fragen eine Antwort zu kennen.
Eine Brücke zwischen kolonialer Vergangenheit und postkolonialer Gegenwart schlägt auch der Beitrag „Zahlvaterschaft“ von Moritz Siebert, der auf die Delegitimierung eines sehr spezifischen schwarzen Lebens abhebt. Im ersten Bild sieht man eine Gestalt unter einer Decke auf dem Bürgersteig liegen; ein an der Laterne befestigtes Schild weist auf den Grund hin: „Hungerstreik!!!“. Der in Schwarz-Weiß gehaltener Kurzfilm kreist um den Fall von Gerson Liebl, den Enkel eines Kolonialbeamten aus Togo, der seit mittlerweile 30 Jahren für die deutsche Staatsbürgerschaft und ein Aufenthaltsrecht in Deutschland kämpft.
Die Bilder des Hungerstreiks vor dem Roten Rathaus in Berlin treffen auf eine Tonspur, auf der die Sprache kolonialer Verwaltung gar nicht so fern von der Sprache heutiger Bürokratie klingt. Eine Eingabe von Friedrich Liebl wird verlesen, in der dieser anweist, der Mutter seines noch ungeborenen Kindes einen bestimmten Betrag auszuzahlen, abhängig davon, ob es sich bei dem Baby um ein „Mulattenkind“ oder ein „schwarzes Kind“ handelt. In ersterem Fall folgt auf die einmalige Zahlung noch eine monatliche Rate für den Unterhalt der ersten zwei Jahre, im zweiten soll der restliche Betrag an ihn zurückgeschickt werden. Kolonialer Rassismus als Mathe-Aufgabe.
Liebl kann deshalb kein Deutscher werden, weil sogenannte „Mischehen“ im Deutschen Reich verboten waren, und nur eheliche Kinder von deutschen Vätern Deutsche werden konnten. Auch die Bundesrepublik erkennt nachträglich keine dieser sogenannten „Zahlvaterschaften“ an; es resultiere „keinerlei verwandtschaftliche Beziehung“ aus dieser Form der Elternschaft, heißt es in der jüngsten Antwort auf eine Petition, die die Einbürgerung Liebls forderte. In einer anderen Petition wurde freundlich darauf hingewiesen, dass der deutsche Außenminister Joschka Fischer im Jahre 2001 „vom Rassismus als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesprochen und sich im Namen der BRD entschuldigt“ hatte.
So wirkt rassistisches Kolonialrecht in eine Gegenwart hinein, die sich mit humanistischen Lippenbekenntnissen behilft, die Verbrechen an die Menschlichkeit verurteilt, aber den konkreten Menschen, die diese Verbrechen am eigenen Leib erfahren haben und noch immer erfahren, nicht helfen will. „Zahlvaterschaft“ macht am eindrücklichen Beispiel des de facto staatenlosen Gerson Liebl deutlich, dass ein Nachdenken über die Gegenwart, über Demokratie, Asyl und Rassismus hierzulande nicht möglich ist, ohne sich mit deutscher Geschichte auseinanderzusetzen.