© Rainer Komers ("Miyama, Kyoto Prefecture")

Spiegel vor der Brust - Rainer Komers

Rainer Komers’ vielfältiges Filmwerk und die Monografie „Außen Fuji Tag“

Veröffentlicht am
22. Mai 2023
Diskussion

Der aus der brandenburgischen Niederlausitz stammende Rainer Komers bewegt sich in seinen Dokumentarfilmen auf eigensinnigen Wegen, die mal ganz der Beobachtung von Menschengruppen vertrauen, mal auf dem poetischen Interesse des Filmemachers aufbauen, der auch als Dichter hervorgetreten ist. 2022 ist mit „Außen Fuji Tag“ die erste Monografie zu seinem Werk erschienen, die seine Arbeitsweise nachvollziehbar macht und sich in Vorbereitung auf seinen neuesten Film „Miyama, Kyoto Prefecture“ (Start am 11. Mai) lesen lässt.


„Die Antworten des Regisseurs sind eigenwillig und folgen nicht unbedingt der durch die Fragen vorgegebenen Richtung“, heißt es im Protokoll der 42. Duisburger Filmwoche zu Rainer Komers’ Film „Barstow, California“ (2018). Und weiter: „Sprunghaft unterbreitet Komers Anekdoten in Form fragmentarischer Halbsätze … Das Komische liegt mithin in der Inkongruenz von Form und Inhalt. Obwohl Komers eine gewisse stoische Bedächtigkeit an den Tag legt, schiebt er ganz nebenbei immer wieder ziselierte bis kauzige Erläuterungen ein.“

Denkbewegungen, die nicht geradeaus gehen, sondern Sprünge machen, Kreise ziehen und sich so lange auf Nebenwegen herumtreiben, bis ein größeres kontextuelles Feld bestellt ist, sind charakteristisch für die Gespräche mit Rainer Komers. In der Monografie „Außen Fuji Tag“ kann man sich von seiner eigenwilligen Sprech- und Denkpraxis ein umfassendes Bild machen. Der von dem Duisburger Literaturwissenschaftler Andreas Erb herausgegebene und von Komers mitgestaltete Band ist bereits im letzten Jahr erschienen und bewegt sich als Zugang zu seinem vielfältigen Werk auf gleich mehreren Spuren.

Im Alexander Verlag erschienen: "Außen Fuji Tag" (Alexander Verlag)
Im Alexander Verlag erschienen: "Außen Fuji Tag" (© Alexander Verlag)

Neben den Gesprächen, die immer wieder von anderem Material durchbrochen werden – Zitate, Gedichtzeilen, Synopsen eigener Filmprojekte, Programmnotizen von Filmfestivals etc. – versammelt das Buch persönliche Aufzeichnungen zu den Filmarbeiten, Essays zu Filmplakaten, Typogrammen und Lyrik, hinzu kommen eine kleine Auswahl an Gedichten und eine ausführlich kommentierte Filmografie.


Minderheiten und Randfiguren

Aktuelle Anlässe, sich umfassender mit Komers’ Werk zu beschäftigen, gibt es auch 2023 einige. Im Rahmen einer Ausstellung der Künstlerin Hiroko Inoue, Komers’ langjährige Arbeitspartnerin bei zahlreichen Projekten, war im Februar in der Berliner Brotfabrik etwa der Film „Kobe“ (2006) zu sehen. Japan ist in der künstlerischen Praxis des Filmemachers schon lange ein wichtiger Bezugspunkt und auf hintergründige Weise mit dem Ruhrgebiet verbunden, das vor allem im dokumentarischen Frühwerk einen zentralen Platz einnimmt. Als bedeutenden Einfluss nennt Komers auch immer wieder das durch die Schriften Andrej Tarkowskis entdeckte japanische Haiku: als eine kurze, prägnante Form, in der Konkretheit, Gegenwärtigkeit und Offenheit zusammenfinden. Der Blick auf Arbeit und Landschaft prägt auch den aktuellen (Japan)-Film. Nach seiner Premiere bei DOK Leipzig 2022 wird „Miyama, Kyoto Prefecture“ im Mai in den deutschen Kinos zu sehen sein.

Komers’ Filmografie zählt rund dreißig Arbeiten aus über fünfzig Jahren, die kürzeste dauert 5 Minuten, die längste 97, das dominierende Format aber ist die mittellange Form. Im Buch sind die filmischen Arbeiten nicht chronologisch, sondern nach Werkgruppen geordnet. Dass sich „Barstow, California“ (2018) und „Miyama, Kyoto Prefecture“ (2022) nicht unter den Dokumentarfilmen finden, sondern eine eigenständige Gruppe namens „Life & Landscape“ eröffnen, zeigt nur einmal mehr, wie wenig Komers an einem Werkbegriff interessiert ist, der auf Kohärenz und Linearität ausgerichtet ist. Querverbindungen gibt es dafür in Fülle, und mitunter gehen sie auch über die eigene Autorschaft hinaus. So verbindet sich etwa „Zigeuner in Duisburg“ (1980), Komers’ früher Film über die Sinti-Familie Mettbach, deren Erfahrungen mit Antiziganismus sich nach der Verfolgung durch die Nazis in der Vertreibung von ihrem Wohnwagenplatz und anderen Repressionen schmerzhaft fortsetzte, mit Peter Nestlers Dokumentarfilmen „Unrecht und Widerstand – Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung“ und „Der offene Blick – Künstlerinnen und Künstler der Sinti und Roma“. In beiden Arbeiten von Nestler führt Rainer Komers die Kamera.

An der legendenären Route 66: "Barstow, California" (Jip Film)
An der legendären Route 66: "Barstow, California" (© jip Film)

Die Aufmerksamkeit für minoritäre Gruppen und gesellschaftliche Randfiguren zeichnet Komers’ Werk ebenso aus wie das Interesse für die sogenannten „kleinen Leute“: von den Arbeitern des Krupp-Stahlwerks in Rheinhausen, die (erfolglos) gegen die Stilllegung kämpfen („Erinnerung an Rheinhausen“, zusammen mit Klaus Helle, 1989) bis hin zu den Menschen, die im nördlich von Kyoto gelegenen Miyama eine bescheidene Existenz als Jäger, Förster und Fleischer bestreiten. Wie Komers im Katalog bemerkt, muss er die Arbeitswelt wohl schon früh „auf dem Schirm bzw. im Sucher der Kamera“ gehabt haben. 1961, auf einer Klassenfahrt nach Berlin, entstand bereits ein Foto, das eine Gruppe von Müllmännern zeigt. Neben der Darstellung von Arbeit ziehen sich Straßen, Verkehrswege und der Bergbau motivisch durchs filmische Werk.


Die Künste durchkreuzen sich

In Komers’ Biografie haben sich die Künste von Beginn an durchkreuzt. 1944 in Guben geboren, begann der schon früh im Studentischen Filmclub in Bonn aktive junge Mann seine bildnerische Laufbahn zunächst als Siebdrucker. Ende der 1960er-Jahre entwarf und druckte er Plakate fürs Kino und für politische Emanzipationsbewegungen unter dem Einfluss von Andy Warhols Pop Art, später unterrichtete Komers an der Kunstakademie in Düsseldorf, wo er bald ein Filmstudium begann. Dabei ging er von dem elitären Selbstverständnis, das häufig mit dem Autorenbegriff verbunden ist, früh auf Abstand: „Meine Medien waren das von mir entworfene und gedruckte Plakat auf der Straße und der Film auf der silbernen Leinwand oder dem Bildschirm – alles barrierefrei, reproduzierbar und für jedermann zugänglich.“ Folgenreich war ein einjähriges Gaststudium der Fotografie an der Gesamthochschule Essen, neben den Medien Film und Bild bekam bald auch das Wort eine große Bedeutung. „Beim Filmemachen trage ich den Spiegel vor der Brust, beim Gedichtmachen in der Brust und beim Bildermachen verschmelzen die Positionen“, so Komers im Katalog. Über 700 Gedichte sind bis heute entstanden, zudem initiierte er die deutsche Veröffentlichung der Poeme von Spoon Jackson, dem Protagonisten von „Barstow, California“, und übernahm dabei die Doppelrolle von Herausgeber und Übersetzer.

Zur Rolle des beobachtenden Dokumentaristen hatte Komers von Beginn an ein ambivalentes Verhältnis: „Hinter der Kamera als jemand, der die Handlungen anderer beobachtet, der sie benutzt wie Schauspieler, sie aber nicht dafür bezahlt (selbst ein Voyeur bezahlt seine Darsteller), kam ich mir oft vor wie ein Gefangener hinter Gittern, der sich selbst nicht frei bewegen, sondern nur beobachten kann. Deshalb ist das Verhältnis von Helden und Regie bei mir bis heute skrupulös besetzt.“ Nachdem Filme wie „480 Tonnen bis Viertel vor zehn“ (1981) und „Erinnerung an Rheinhausen“ (1989) noch ganz unter dem Einfluss des Direct Cinema entstanden, verabschiedete sich Komers mit den sogenannten „Landscape Listenings“ nicht nur von der „verfolgenden“ Kamera, sondern entledigte sich auch der Sprache. Die beiden Tetralogien „ErdBewegung“ und „Four Elements of Destruction“ („Kobe“, 2006, „Ma’rib“, 2008, „Milltown, Montana“, 2009, „Ruhr Record“, 2014) bestehen im Wesentlichen aus Aufnahmen industrialisierter Landschaft, die im raschen Wechsel aneinander montiert werden. In Abwesenheit von Dialog und Kommentar tritt die Komposition von Bewegtbild und Klang in den Vordergrund.

Spoon Jackson liest aus seinen eigenen Werken: "Barstow, California" (jip Film)
Spoon Jackson liest aus seinen eigenen Werken: "Barstow, California" (© jip Film)

Unerwartet und umso eindringlicher kehrt die Sprache in „Barstow, California“ zurück, einem Film, der Landschaftsfilm, Ortsbegehung und biografische Skizze miteinander verknüpft. Die ökonomisch abgehängte Kleinstadt Barstow liegt an der historischen Route 66, hier verbrachte der Afro-Amerikaner Stanley „Spoon“ Jackson seine Kindheit und Jugend, bevor er 1978 wegen Mordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurde und die lyrische Sprache für sich entdeckte. Zu Bildern versteppter Flächen, weiter Straßen von Präriegrasbüscheln und Gleisen hört man den im Bild abwesenden Jackson aus seiner Autobiografie vorlesen. Zu Wort kommen ebenso Mitglieder seiner Familie und andere Bewohner:innen der Stadt Barstow, Gäste einer Highway-Kneipe sowie eine Geologin und ihre Studierenden im Rainbow Basin. Auch „Barstow, California“ ist der Landschaft abgelauscht: Man hört das rhythmische Rattern der Eisenbahn, Wind, Militärhubschrauber und den Sound des lokalen Radiosenders.



Zurückhaltung gegenüber Einzel-Protagonisten

Komers’ Zurückhaltung, einen einzigen Protagonisten ins Zentrum zu stellen und stattdessen den Blick auf seine soziale und landschaftliche Umgebung auszuweiten, ist auch in „Miyama, Kyoto Prefecture“ (2022) auffällig. Ganz in der Logik der „Landscape Listenings“ beginnt der Film mit einer Serie von eher kurz getakteten Landschaftsaufnahmen – Brücke, Flussbett, Wald, Schienenreste –, bevor er nach der kurzen Momentaufnahme eines Nō-Vorspiels diskret und vom Rand aus beobachtend dem Zusammensein einiger älterer Frauen beiwohnt, die sich über ihre Krankenhauserfahrungen austauschen. Erst wenn das Gemeinschaftliche etabliert ist, geraten einzelne Personen in den Blick, darunter auch Uwe Walter, ein Gelsenkirchener, der schon seit drei Jahrzehnten in dem abgelegenen Wald- und Touristengebiet nördlich von Kyoto lebt. Für eine Weile denkt man, der Film habe mit dem wuschelköpfigen Shakuhachi-Spieler sein Zentrum gefunden. Um sich kurz darauf zu fragen, ob „Miyama, Kyoto Prefecture“ nun ein Film über einen in einem japanischen Dorf gestrandeten Deutschen ist oder ein Film über ein japanisches Dorf, in dem „zufällig“ auch ein Deutscher lebt. Letztlich oszilliert der Film zwischen beiden Polen.

Angesprochen auf die Priorisierung einer Gruppe, (Arbeits-)Gemeinschaft oder der Bewohnerschaft eines Ortes zugunsten der Einzelbiografie spricht Komers von Skrupeln, „in die Persönlichkeitssphäre anderer einzudringen und die Verantwortung für einen Protagonisten zu übernehmen, mit dem es an die Öffentlichkeit geht“. Aber auch von: „Lust auf Gemeinschaft an gesellschaftlichen Schauplätzen […], Angstlust, vor eine fremde Gemeinschaft zu treten […], Sehnsucht danach, einer Gemeinschaft anzugehören und ihr die Verantwortung zu übertragen.“ Bei Komers sind stets unterschiedliche Bewegungen am Werk, dabei müssen sich die Bilder selbst noch gar nicht in Bewegung gesetzt haben. Man kann ihm auch einfach zuhören.

Startet am 11. Mai in den Kinos: "Miyama, Kyoto Prefecture" (Rainer Komers)
Startet am 11. Mai in den Kinos: "Miyama, Kyoto Prefecture" (© Rainer Komers)

Literaturhinweis

Außen Fuji Tag: Werkschau Rainer Komers. Von Andreas Erb (Hrsg.). Alexander Verlag, Berlin 2022. 216 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 30 Euro. Bezug: in jeder Buchhandlung oder hier.

Kommentar verfassen

Kommentieren