Das 23. Festival des mittel- und osteuropäischen Films goEast in Wiesbaden (26.4.-2.5.2023) stand zum zweiten Mal unter dem Schatten des russischen Kriegs gegen die Ukraine. Das Symposium des Festivals kreiste um die „Dekolonialisierung der (post-)sowjetischen Leinwand“ und erinnerte mit Nachdruck daran, dass der kulturelle Imperialismus aus Zeiten der Sowjetunion in Filmarchiven, -hochschulen und -vertrieb teilweise bis heute fortbesteht. Auch die an das Symposium angedockten Filme zeigen, wie wichtig vielerorts ein Umdenken in den ehemaligen Sowjetstaaten ist.
Eine Rolltreppe fährt die Gruppe Rekruten hinunter in die Tiefe eines U-Bahnhofs. Kurz bevor die Gruppe unten ankommt, versperren zwei Soldaten den Weg von der Rolltreppe. Die Rekruten beginnen auf der fahrenden Rolltreppe zu joggen. Einer von ihnen beginnt zu schreien. Eine Bahn fährt durch, verschwindet im Tunnel. Eine Szene wie aus einem Albtraum. Für Andriy Bilyk, den Protagonisten von Andriy Donchyks „Oxygen Starvation“, ist der Albtraum mit dieser Szene nicht zu Ende. Kurz vor Ende der Sowjetunion kommt Bilyk als Rekrut aus der Ukraine in die sowjetische Armee.
In einer Armeebasis mitten im Nirgendwo werden die Rekruten von den Wehrdienstleistenden, die diese Hölle schon ein, zwei Jahre länger durchlaufen, schikaniert. Die Schikane folgt dabei einer klaren Rangfolge, in der die Rekruten aus Russland über jenen aus den anderen Sowjetrepubliken stehen. „Oxygen Starvation“ entstand 1992 als ukrainisch-kanadische Koproduktion in der gerade unabhängig gewordenen Ukraine. Eine Einblendung zu Beginn des Films weist darauf hin, dass der Film in damals noch aktiven Einrichtungen der sowjetischen Armee gedreht wurde.
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Während Bilyk von den übrigen Rekruten und Wehrdienstlern schikaniert wird und der Kommandant der Einheit ein rassistischer Opportunist ist, verbindet ihn mit dem Sergeanten der Einheit ein ambivalenteres Verhältnis. Beide stammen aus der Ukraine. Doch während sich Bilyk weigert, Russisch zu sprechen, hat sich der Sergeant an die Regeln der Institution angepasst. „Oxygen Starvation“ lief Ende April im Rahmen des diesjährigen Symposiums von goEast, das sich der „Dekolonialisierung der (post-)sowjetischen Leinwand“ gewidmet hat. Was tun mit all den kolonialisierenden Institutionen, Logiken und Mechanismen, die nach dem Ende der Sowjetunion als russischer Kulturimperialismus fortgeführt wurden?
Raus aus der Russifizierung
Donchyks Film widmet sich nur wenige Monate nach dem Ende der Sowjetunion der Armee. Der erzwungenen Russifizierung in der sowjetischen Armee aus „Oxygen Starvation“ standen im Laufe des Symposiums eine ganze Reihe von Institutionen der Filmwelt gegenüber, in denen bis heute um eine Dekolonialisierung gerungen wird: unter anderem Filmarchive, Filmhochschulen, Filmvertrieb.
Mit Blick auf die Ukraine skizzierte der Filmwissenschaftler Ivan Kozlenko, ehemaliger Leiter des Dovzhenko-Center in Kiew, in einem Panel zur „Vergangenheit, Gegenwart und unsicheren Zukunft“ der ukrainischen Filmindustrie deren unterschiedliche Phasen nach 1991: Von den Aufbrüchen der frühen 1990er-Jahre und deren abruptem Ende über die Reorganisation und Reorientierung der Filmindustrie ausgerechnet in der Zeit des pro-russischen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch bis in die Gegenwart, in der unter Selenskyj Fernsehproduzenten mehr Einfluss in der Filmindustrie bekamen.
Die Filmkritikerin Daria Badior unterstrich, dass zwar nach der „Revolution der Würde“ 2014 ein Publikum für ukrainische Filmproduktionen entstanden sei. Was aber immer gefehlt habe, sei ein Verständnis der Städte und Kommunen für die Förderung von Filmkultur und Filmen jenseits eines rein kommerziellen Kinos, etwa in Form kommunaler Kinos. Es sei unklar, wie viele der 400 Leinwände aus der Zeit vor Februar 2022 noch existierten. Die Filmfestivals des Landes versuchten zwar, den Bedingungen des Kriegs zu trotzen, und seien letzten Herbst dank eigener Generatoren teils die einzigen gewesen, die inmitten der vom Raketenterror erzwungenen Blackouts noch Licht gehabt hätten. Aber all das, so Badior, ändere nichts am Sterben auch der Filmleute in diesem Krieg: „Es gibt einfach zu viele Begräbnisse für eine Filmindustrie.“
Zur unabhängigen Filmszene in Zentralasien
Unter den Filmen des Symposiums stach insbesondere „The Burden of Virginity“ von Umida Akhmedova und Oleg Karpov hervor. Es beginnt mit einer Busfahrt. Eine Gruppe Männer reist zu einer Hochzeit an, während sich die Braut und deren Familie in ihrem Haus auf die Hochzeit vorbereiten. In gerade einmal einer halben Stunde sezierte Akhmedova 2008 den misogynen Kult um ein Phantasma von Jungfräulichkeit in Usbekistan. Die Regisseurin wurde für ihren Film wegen „Verleumdung und Beleidigung des usbekischen Volkes und seiner Traditionen“ angeklagt und verurteilt. Trotz solcher Repressalien entwickelte sich im Laufe der letzten zehn Jahre in vielen Ländern Zentralasiens eine kleine unabhängige Filmszene. Eine Reihe von Filmen aus dem Umfeld des von der usbekischen Künstlerin Saodat Ismailova gegründeten Davra Collectives griff Genderfragen in den Gesellschaften Zentralasiens erneut auf. Zumrad Mirzalievas „Autonomy“ (2022) zeigt junge Frauen auf den Treppen zu einem Schrein in der Nähe von Samarkand, der Fruchtbarkeit verheißen soll, und stellt die Mutterschaft als einzige Erfüllungsform von Weiblichkeit in Frage. Alla Rumyantseva nimmt in „I Met a Girl“ (2014) einen Klassiker des tadschikischen Films zum Ausgangspunkt eines Exkurses zur Rolle der Frau in der Gesellschaft Tadschikistans. In leider zu knapp montierten Interviewsequenzen geben Frauen in dem Film Auskunft über ihre Vorstellungen aus Kindheitstagen zur eigenen Zukunft und dem wenigen, was davon Realität werden durfte.
Die georgische Regisseurin Nana Janelidze nahm sich in „Liza, Go On!“ aus der Gegenwart zurückblickend des Georgisch-Abchasischen Kriegs von 1992/93 an. Ein Anruf in einer Livesendung konfrontiert eine Reporterin mit ihren Anfängen als Kriegsreporterin und den unbequemen Seiten, den Massakern und Kriegsverbrechen beider Seiten des Konflikts, die unter den gängigen Geschichtsschreibungen begraben wurden. Janelidze strukturiert ihren Film in drei Ebenen: dem Leben der Reporterin in der Gegenwart, ihren Anfängen als junge Frau und animierten Sequenzen, die Kriegstagebücher georgischer und abchasischer Zeitzeugen verarbeiten.
Jenseits dieser animierten Sequenzen wird in „Liza, Go On!“ jede filmische Gestaltung unter dem Gewicht des Gezeigten erdrückt. Der Film schleppt sich mit halbgarem Schauspiel dahin, um das von Beginn an Absehbare nach zwei Stunden in nicht enden wollender Vorhersehbarkeit zu inszenieren. Dennoch: „Liza, Go On!“ ist in seinem Beharren, der anderen, der abchasischen Seite, Gehör zu schenken, für den georgischen Kontext ein ehrenwerter Film. Wie im Falle europäischer Arbeiten zum Zweiten Weltkrieg ist der Film als Standortbestimmung auch international sehenswert. Dieser Zwiespalt eines mäßig gelungenen, aber sehenswerten Films wirft einmal mehr die Frage auf, welche Räume es für solche Filme gibt. Workshops und Symposien wie das von goEast mögen ideal sein, sind aber rar.
Auch die Weltvertriebe fördern alte Strukturen
Dem Programm ging das Panel „Post-, neo- und de-koloniales Zentralasien: Menschenrechts-Aktivismus und kollektives Filmemachen“ voraus. Die Künstlerinnen und Filmemacherinnen Aïda Adilbek, Gulzat Egemberdieva und Anisa Sabiri umrissen die Probleme, in Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan Filmstrukturen aufzubauen, die gleichermaßen unabhängig sind von den über Jahrzehnte gewachsenen Strukturen der Filmausbildung an der Moskauer VGIK einschließlich ihrer lokalen Ableger und den autoritären Regimen vor Ort. Vor allem Sabiri wies zudem darauf hin, dass der Filmvertrieb in den Ländern Zentralasiens weiterhin in russischer Hand ist, was am Unwillen der Weltvertriebe liegt, die traditionellen Zuschnitte der Lizenzvergabe zu ändern.
Ergänzt wurden die Positionen der Filmemacherinnen durch die Erfahrungen Mikhail Borodins beim Aufbau einer Filmschule im usbekischen Taschkent gemeinsam mit Julia Shaginurova. Alle beklagten die Unmöglichkeit für Filmemacher:innen aus Zentralasien, Fördergelder bei europäischen und deutschen Gebern zu beantragen, weil eine Vergabe nach Zentralasien schon in den Statuten der meisten Institutionen nicht vorgesehen ist. Daneben stellt die Vergabe von Visa eine hohe Hürde für die Interaktion mit westlichen Filmindustrien dar, während Reisen nach und Ausbildungen in Russland mit der entsprechenden Selbstzensur nach wie vor möglich sind.
Komplexe Reformen sind nötig
Als im April 1955 im indonesischen Bandung die erste asiatisch-afrikanische Konferenz stattfand, war die Frage, ob der sowjetische Imperialismus in Osteuropa und Zentralasien dem westeuropäischen Kolonialismus gleichgestellt werden sollte, eine der zentralen Streitfragen der Konferenz. In den Jahren danach verwandte die Sowjetunion viel Geld und Ressourcen darauf, als Verbündeter in antikolonialen Kämpfen zu gelten. Ein Image, das bis heute währt. Doch 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion zwingen der russische Krieg in der Ukraine und die staatlich organisierten Verbrechen, die von russischer Seite in seinem Schatten begangen werden, dazu, den sowjetischen Zugriff auf einige Teilrepubliken und Russlands Umgang mit einigen ehemaligen Sowjetrepubliken zumindest auch mit Begriffen des Kolonialismus zu beschreiben und die Befreiung von diesem Zugriff mit Konzepten der Dekolonialisierung.
Wie komplex die aus dieser Einsicht folgenden Reformen in sämtlichen Institutionen der Filmindustrie, der Filmausbildung und der Distribution von Filmen sind, davon hat das diesjährige Symposium einen ebenso knappen wie vielseitigen Eindruck gegeben. Über alle Unterschiede der politischen Kontexte hinweg wurden gemeinsame Herausforderungen in der Veränderung von Strukturen sichtbar, die über Jahrzehnte gefördert wurden. Mit dem diesjährigen Symposium von goEast haben die beiden Kuratorinnen Barbara Wurm und Heleen Gerritsen einmal mehr dessen Bedeutung für die komplexe Wahrnehmung osteuropäischer Filmkulturen in Deutschland unterstrichen.