Manche Filme in Cannes stechen in diesem Jahr schon durch ihre stylische Extravaganz hervor. Dazu zählen die neuen Filme von Wes Anderson und Jessica Hausner, aber auch „Fallen Leaves“ von Aki Kaurismäki, wenngleich dessen gedeckte Farbpalette eher in Moll als in Dur spielt. Beobachtungen zu außergewöhnlichen Werken.
Das Verführerische an Filmfestivals wie in Cannes ist ihr Potenzial für Überraschungen, selbst wenn das mitunter gar nicht so intendiert gewesen ist. Augenblicklich dominiert in Cannes eine berückende Kombination von Style & Stars, allen voran Wes Anderson mit seinem All-Star-Vehikel „Asteroid City“, in dem mindestens zwei Dutzend der namhaftesten Hollywood-Darsteller von Scarlett Johansson bis Tom Hanks für ein wohliges Gefühl des Vertrauten inmitten einer skurrilen Retro-Fantasie sorgen.
Mit ironisch feiner Pastell-Palette von hellstichigen Grün- bis Blautönen lässt Anderson eine wachsende Zahl an Reisenden Mitte der 1950er-Jahre in einem Wüstenkaff in New Mexico stranden, das seinen titelgebenden Namen einem Meteoriteneinschlag verdankt. An der No-Name-Kreuzung von Eisenbahn und Highway finden sich lediglich Tankstelle, ein Diner und eine nur halb fertiggestellte Brücke. Doch als ein Alien auftaucht und den prähistorischen Steinklumpen klaut, der vor Urzeiten in der Wüste eingeschlagen ist, übernimmt das Militär und stellt in dem Örtchen alles auf Stillstand.
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Lustvoll ausgemalte Miniaturen
Dramaturgisch führt dieser Plot zu einer für einen Wes-Anderson-Film
eher gemächlichen Abfolge von visuell lustvoll ausgemalten Miniaturen voller
staubtrockenem Humor und so vielen Anspielungen, dass man mit dem Dechiffrieren
kaum nachkommt.
Um sich dabei nicht gänzlich im CinemaScope-Modus einer episodischen Aneinanderreihung zu verlieren, zieht Anderson mit einer in Schwarz-weiß und im 4:3-Format gedrehten Fernsehshow eine trickreiche zweite Ebene ein, in der sich ein Theaterautor (Edward Norton) ein Stück namens „Asteroid City“ eben erst ausdenkt, das dann aber gleich umgesetzt wird, wobei die Versatzstücke mitunter in der Film-im-Stück-Fantasie kuriose Blüten treiben. Das klingt komplizierter, als es in dem eher horizontal strukturierten Film entfaltet wird, der im Gegensatz zu vielen anderen Wes-Anderson-Filmen nicht auf dem verschachtelten Prinzip einer Geschichte-in-der-Geschichte beharrt, sondern sich primär im verspielten Detailreichtum ergeht.
Was „Asteroid City“ neben all den Zitaten und seiner Starpower so bezaubernd macht, ist das Spiel mit Farben, Einstellungen und Bildausschnitten, die sich zu einem schwelgerischen Kino der puren Schaulust vereinen.
Herbstlich-herzlich
Gleiches lässt sich für „Fallen Leaves“ von Aki Kaurismäki weniger emphatisch behaupten, da der herbstlich-melancholische Filmtitel für den finnischen Regisseurs ja konstitutiv ist. Wo man einen Wes-Anderson-Film an seiner Bildsymmetrie, dem Spiel mit Spilt-Screen oder harten Schnitten mühelos identifizieren kann, reicht bei Kaurismäki das allererste Bild, um in seiner verloren-tristen Welt einsamer Seelen gegenwärtig zu sein.
Kaurismäki wurde in Cannes mit empathischem Wohlwollen begrüßt. Schon beim Gang über den Roten Teppich erntete er für seine versteinerte Deadpan-Komik, mit der er die Rituale der Premiere karikierte, herzhaftes Gelächter, was den Ton für die Filmvorführung setzte, deren lakonische Scherze mit befreiendem Gelächter quittiert wurden. Wenn in „Fallen Leaves“ zwei Personen aus dem Jim-Jarmusch-Film „The Dead Don’t Die“ kommen und kundtun, dass sie sich dabei an Bressons „Tagebuch eines Landpfarrers“ erinnert fühlten, liegt Kaurismäki ganz Cannes zu Füßen.
Die Geschichte um zwei traurig-vereinsamte Working-Class-Figuren in ihrer zweiten Lebenshälfte nutzt die signifikante Kaurismäki-Ästhetik aus gedeckten Tönen, wenigen Farbtupfern und wie gemeißelt wirkenden Gesichtern für eine lange verhinderte Lovestory, die nicht nur wegen Missverständnissen oder unglücklichen Fügungen erst gegen Ende ins Laufen kommt. Denn als es endlich doch mit einem ersten Rendezvous klappt, geht das gründlich schief, weil Ansa (Alma Pöysti) Holappa (Jussi Vatanen) wieder fortschickt, da er ihre Einladung nicht ohne Schluck aus seiner Pulle aushält. Erst ein Unglück und einen Hund später findet der Film dann doch noch zu einem Happy End.
Um sich auf diesen melancholischen Kosmos einzulassen und seine vertrackte Schönheit wertzuschätzen, muss man sich ein wenig einschwingen, doch dann berührt die Kaurismäki-Magie heruntergekommener Bars, trister Arbeitsstätten oder der Jukebox-Musik mit italienischen und französischen Chansons (oder auch mal einem Schubert-Lied!) mit ihrem skurrilen Zauber. Und findet in schönster Charlie-Chaplin-Manier am Ende auch einen sympathischen Ausweg aus aller Tristesse. Die lakonische Meisterschaft von Kaurismäki kannte ja noch nie Kompromisse! Und die Zeitlosigkeit seiner Handschrift ändert sich auch nicht dadurch, dass aus dem Radio jetzt permanent niederschmetternde Nachrichten vom Krieg in der Ukraine dringen. Zur Not wird am alten Röhrenradio einfach auf ein anderes Programm weitergedreht.
Kühle Parabel über Manipulation und Missbrauch
„Club Zero“ von Jessica Hausner
dagegen ist eine kühle, irritierend emotionslose Parabel in Maisgelb und Knallgrün
über Manipulation und Missbrauch von Jugendlichen. Noch mehr als in „Little Joe“ treibt Hausner in der Story um eine neue Lehrerin (Mia Wasikowska) die plakative Stilisierung von Plot und Inszenierung auf
die Spitze. Wie im Märchen vom Rattenfänger von Hameln versammelt die neue
Pädagogin an einer englischen Privatschule eine Handvoll Jugendlicher um sich,
die sie mit ihrer „Iss weniger“-Botschaft für ein bewussteres Leben, den Schutz
der Umwelt, größere Leistungsbereitschaft und ein insgesamt erfolgreicheres
Leben begeistert. In Wahrheit aber macht sie die Kinder von sich abhängig. Und
nimmt fünf von ihnen schließlich in ihren „Club Zero“ auf, der ohne jede Form
von Nahrung auskommen will.
Das nur ganz knapp ins Futuristische verschobene Drama setzt ganz auf eine strenge Farbcodierung und aufreizende Künstlichkeit, weil der Film nicht auf Spannung aus ist, sondern sich an einer Vivisektion der Gegenwart beziehungsweise einer Art von Gehirnwäsche versucht, die erkennbar auf aktuelle Phänomene bezogen sind.
Auch bei Hausner braucht es eine gewisse Bereitschaft, sich auf das Spiel mit den optischen Codes und der Überdeutlichkeit einzulassen. Anders als bei Kaurismäki zielt sie damit nicht auf einen Humanismus, sondern hat eher einen Spiegel des Inhumanen im Sinn hat. So ist das wohl bei der jeder Form filmkünstlerischer Meisterschaft: Man muss die jeweiligen Handschriften zu lesen verstehen, um den Reichtum und die Eigenheit der Filme voll auszuschöpfen.