© IMAGO/Sophie Bassouls/Leemage (Georges Perec)

Leders Journal (XX): Nie zweimal das gleiche

Leders Journal (XX): Eine lesenswerte Biografie macht auf die filmischen Arbeiten des französischen Schriftstellers Georges Perec (1936-1982) aufmerksam

Veröffentlicht am
04. September 2023
Diskussion

Der früh verstorbene französische Schriftsteller und Filmemacher Georges Perec (1936-1982) war ein Meister der genauen Beobachtung, aber auch ein kreatives Genie, das einen Roman ohne den Vokal „e“ schrieb und ein 1247 Wörter umfassendes Palindrom ersann, das vorwärts wie rückwärts gelesen werden kann. Auf sein reiches filmisches Schaffen macht jetzt eine Biografie von David Bellos aufmerksam.


Der Filmgeschichtsschreibung geraten oft die Einzelgänger aus dem Blick, weil sie keine klassische Medienbiografie aufweisen, keiner Gruppe und Fraktion angehören oder sich nicht auf einzelne Genres reduzieren lassen. Oft sind es Menschen, die sich zunächst mit anderen Künsten beschäftigten und mit diesen bekannt wurden. Zu ihnen gehört der Schriftsteller Georges Perec (1936-1982), auf dessen filmische Arbeiten die gerade in Deutschland erschienene Biografie von David Bellos aufmerksam macht: „Georges Perec – Ein Leben in Wörtern“.

Bekannt wurde Perec, der einer aus Polen stammenden jüdischen Familie angehörte, durch seine literarischen Experimente. Als Mitglied des literarischen Zirkels Oulipo wagte er die absonderlichsten Versuche. So schrieb er 1972 einen über 200 Seiten starken Roman, ohne den Buchstaben „e“ zu benützen, obwohl der Vokal sowohl im Französischen als auch im Deutschen der am häufigsten verwendete ist. Im Original heißt er „La disparition“, auf Deutsch in der Übersetzung von Eugen Helmlé „Anton Voyls Fortgang“. Perec verfasste auch eines der längsten Palindrome, die je erfunden wurden, also einen sprachlichen Ausdruck, den man sowohl vorwärts wie rückwärts lesen kann, etwa das Wort „Otto“ oder den Satz „Eine güldne, gute Tugend: Lüge nie“. Perecs Palindrom umfasst 1247 Wörter!


     Das könnte Sie auch interessieren


Ich erinnere mich

Zugleich untersuchte Perec immer wieder die Möglichkeiten und Grenzen der Erinnerung. In dem Buch „Je me souviens“ (1978), das bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde, sind es 480 Sätze, die alle mit den Worten des Titels (Ich erinnere mich) beginnen und meist Details aus seiner Kinder- und Jugendzeit in sprachlich konzentrierter Form freilegen. Im Roman „W ou le souvenir d’enfance“ („W oder die Kindheitserinnerung“), der 1975 in Frankreich erschien, verarbeitet Perec das, was er während der deutschen Besatzungszeit erlitt. Sein Vater, der sich als Staatenloser bei der Fremdenlegion gemeldet hatte, um Frankreich gegen die Invasion der deutschen Armee zu verteidigen, wurde 1940 in den ersten Kriegstagen von einem Schrapnell tödlich getroffen. Seine Mutter wurde 1943 von der französischen Polizei als Jüdin aufgegriffen und an die Deutschen ausgeliefert. Sie wurde nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. Er selbst konnte in der tiefsten Provinz unter falschem Namen in einem katholischen Internat untertauchen.

Georges Perec, 1978 (© Imago/Sophie Bassouls/Leemage)
Georges Perec, 1978 (© Imago/Sophie Bassouls/Leemage)

Die Beziehungen Perecs zum Film und zum Kino sind vielfältig und durchaus lehrreich, wie man der Biografie von David Belllos entnehmen kann. Um ein erstes Beispiel zu nennen: In seinem Roman „Les choses“ („Die Dinge“), durch den er 1966 in Frankreich bekannt wurde, beschreibt er das Leben eines jungen Paares, das man als durchaus beispielhaft für die Generation von Menschen Mitte Zwanzig bezeichnen kann, die Ende der 1950er-Jahre in Paris lebte. Es sind – wie es im Roman heißt – „Kinder ihrer Zeit“, für die das Kino die „größte Leidenschaft“ darstellte, der sie sich „jeden, fast jeden Abend“ hingaben. „Sie hatten eine fast übertriebene Sympathie für Western, Thriller, amerikanische Komödien und für jene erstaunlichen Abenteuer, die von lyrischem Schwung, prächtigen Bildern, von überwältigender und fast unerklärbarer Schönheit aufgebläht waren.“

Bei diesen Sätzen denkt man unwillkürlich an jene jungen Leute, die sich ähnlich verhielten und die wenig später dann als Regisseure der Nouvelle Vague bekannt wurden. Zu deren Filmen äußert sich der Erzähler des Romans nicht; erwähnt wird „Letztes Jahr in Marienbad“ von Alain Resnais, den das Paar für „Mist“ hält, und „Lola“ von Jacques Demy, den es zu den wichtigsten Filmen der Zeit zählt.


Film als Ausdrucksmittel

Perec interessierte sich für den Film aber auch als Ausdrucksmittel. Zusammen mit Bernard Queysanne verfilmte er 1974 seinen Roman „Un homme qui dort“ („Ein Mann der schläft“). In diesem Text spricht der Erzähler die Person, deren Alltagsleben er schildert, direkt an: „Sobald du die Augen schließt, beginnt das Abenteuer des Schlafs.“ (So lautet der erste Satz in der Übersetzung von Eugen Helmlé.) Es handelt sich um einen Studenten, der am Tag der entscheidenden Prüfung zuhause in seinem Dachkammerzimmer bleibt und sich von nun an von der Welt isoliert. Im Text werden die Handlungen beschrieben, mit denen er die leere Zeit füllt, über die er nun verfügt. „Du bist allein. Du lernst gehen wie ein Mensch, der allein ist, lernst bummeln, umherschlendern, sehen, ohne hinzuschauen, hinzuschauen, ohne zu sehen.“

Filmstill aus "Ein Mann, der schläft" (© Dovidis Satpec)
Filmstill aus "Ein Mann, der schläft" (© Dovidis Satpec)

Der Roman protokolliert eine radikale Selbsterfahrung, in der eine gesellschaftliche Isolation in das Extrem getrieben wird. Er ist Zeugnis einer Verweigerung ohne offensichtlichen Grund, die jener ähnelt, die im 19. Jahrhundert Herman Melville in seiner Erzählung „Bartleby der Schreiber“ beschrieben hatte, an die Perecs Romans denn auch an einer Stelle erinnert.

In dem Schwarz-Weiß-Film „Ein Mann, der schläft“ sind Teile des Romantextes aus dem Off zu hören, gesprochen von einer Frau (Ludmilla Mikaël), sodass man denken könnte, dass es sich auch im Roman um eine Erzählerin handeln könnte. In den Bildern sieht man zum einen die Hauptfigur, die von Jaques Spiesser äußerst ausdrucksarm dargestellt wird. Ihn sieht man bei seinen Alltagshandlungen in seiner Kammer, bei seinen Gängen durch Paris und seinen sich wiederholenden Besuchen der Kneipen und der Kinos.

Zugleich sind Bilder der Stadt, ihrer Straßen, Häuser und Dächer zu sehen. Es gibt eine überbordende Fülle an dokumentarischen Aufnahmen, mal statisch, mal bewegt (Schwenks, Fahrten und gelegentlich ein Zoom), die zu unterschiedlichen Zeiten aufgenommen wurden und so besonders am frühen Morgen eine verkehrsarme und fast menschenleere Großstadt zeigen. Der Detailreichtum der Bilder (Kamera: Bernhard Zitzermann) steht im Gegensatz zu den Off-Texten, die oft ins Allgemeine drängen und das Generelle benennen. Zugleich verweisen Fragmente aus Filmen von Georges Franju und Frédéric Rossif auf frühere Zeiten in Paris.

Straßenbilder aus Paris: "Ein Mann, der schläft" (© Dovidis Satpec)
Straßenbilder aus Paris: Filmstill aus "Ein Mann, der schläft" (© Dovidis Satpec)

An vielen Filmen beteiligt

Der Film „Un homme qui dort“, den man in der Originalfassung im Netz findet, erhielt 1974 den Prix Jean Vigo. Eine weitere Kinokarriere blieb Georges Perec aber verwehrt, auch wenn er als Mitarbeiter an weiteren Filmen beteiligt war. So schrieb er am Drehbuch des Films „Serie Norie“ (1979) von Alain Corneau mit, der auf dem Roman „A Hell of a Woman“ von Jim Thompson basiert. Ein böser Kriminalfilm, in dem alle Figuren hoffnungslose und von der Welt verratene Existenzen sind, die sich wechselseitig betrügen, bestehlen und töten. Gedreht wurde in einem Vorort von Paris, den man als eine Art Vorhölle begreifen muss.

Der Biografie von Bellos ist zu entnehmen, dass Perec an weiteren Filmentwürfen arbeitete. So verfasste er 1978 gemeinsam mit dem befreundeten Spielfilmregisseur Jean-Paul Rappeneau ein Drehbuch. Der geplante Film sollte als „leichte Komödie“ von einem Aufbrechen all der Nationalströmungen erzählen, die damals in Bundesstaaten wie Jugoslawien oder der Sowjetunion ignoriert oder unterdrückt wurden. Das wäre eine Komödie geworden, die wenige Jahre später realgeschichtlich in ein blutiges Drama mutierte.

1980 realisierte Perec mit Robert Bober den zweiteiligen Dokumentarfilm „Récits d‘Ellis Island“. Er findet sich ebenfalls im Netz und zwar in zwei Teilen (Teil 1, Teil 2). Darin wird der Ort in New York porträtiert, in dem die Einwanderer vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er-Jahre bei ihrer Ankunft anlandeten. Die Kamera erkundet ihn so, wie er sich zur Produktionszeit des Films als eine Art Museum präsentiert. Begleitet werden diese Bilder von Reflexionen zum Thema der Flucht, die Perec formulierte und die im Off vorgelesen werden.

Filmstill aus "Recits d'Ellis Island" (© ina.fr/Institut national de l'audiovisuel)
Filmstill aus "Recits d'Ellis Island" (© ina.fr/Institut national de l'audiovisuel)

Des Weiteren spricht Perec vor der Kamera mit Menschen, die vor dem Holocaust aus Ost-Europa in die Vereinigten Staaten flohen, ähnlich wie auch Teile seiner Familie. In diesen Gesprächen kann man Perec, den man einen Spezialisten der Erinnerung nennen kann, erleben, wie er mit Hilfe von Fotografien dem auf die Spur zu kommen versucht, was Menschen, die als Kinder in die USA flüchteten, von der Überfahrt, der Ankunft, den ersten Tagen im fremden Land erinnern.


Neugierig aufs Alltägliche

Perec kann man aber zugleich auch als einen Spezialisten der sozialen Beobachtung bezeichnen. Das belegt ein Text, der erst jüngst ins Deutsche übersetzt wurde. Sein Titel „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“ beschreibt das Verfahren, dem sich Perec unterzog. Er beobachtete an drei Tagen im Oktober 1974 zu unterschiedlichen Zeiten, was auf einem bestimmten Platz in Paris, dem Place Saint-Sulpice, geschieht. Der Text besteht aus Fragmenten. So reiht er mitunter lauter Details aneinander, wenn er die Buslinien erwähnt, die den Platz anfahren, oder die Lastwagen, die ihn passieren. Er unterscheidet die „Fortbewegungsformen“ der Menschen und notiert, was auf den Reklametafeln – auch der Fahrzeuge – steht. Er registriert alltägliche Irrtümer, wenn ein Gast beispielsweise an der Tür zu einem Café zieht, anstatt sie richtigerweise zu drücken. Er bedient sich der Fiktion, um Wirkliches zu beschreiben, wenn für ihn ein Polizeibeamter „eine gewisse Ähnlichkeit mit Michael Lonsdale“ aufweist, also einem Schauspieler ähnelt, der gelegentlich auch Polizisten darstellte. Mitunter notiert er, über was er angesichts des Beobachteten nachdenkt oder wie er dieses deutet.

Perec (von hinten) im Gespräch mit einem Zeitzeugen in "Récits d'Ellis Island" (© ina.fr /Institut national de l'audiovisuel))
Perec (von hinten) im Gespräch mit einem Zeitzeugen in "Récits d'Ellis Island" (© ina.fr)

Georges Perec legt hier offen, was grundsätzlich auch jedem künstlerischen Dokumentarfilm vorangehen sollte: Die Neugierde auf die Fülle des Alltäglichen, die sich eben nicht gleich und vollkommen auf ein Thema oder eine These reduzieren lässt und die in der Zufälligkeit der Erscheinungen und in ihren Details mehr über die Zeit der Beobachtung verrät, als es ein Thema oder eine These je könnte. So entdeckt er ein einziges Mal jemanden, und zwar eine japanische Touristin, die etwas und eben nicht sich selbst fotografiert. Heute sähe das anders aus. Zugleich registriert er die „Grenzen“ seines Unternehmens, dass er nur einen Teil von dem erfassen kann, was um ihn herum geschieht. Er benennt so den blinden Fleck seiner Beobachtung. Etwas, was in Dokumentarfilmen viel zu selten geschieht.

Das Kino kommt in diesem kleinen Text ebenfalls vor. Er notiert am 19. Oktober 1974 um 14.00 Uhr: „Vorbeigehen von Paul Virilio. Er geht Gatsby den Widerlichen im Bonaparte schauen.“ Gemeint ist der Spielfilm „Der große Gatsby“ mit Robert Redford in der Hauptrolle, den Jack Clayton nach einem Drehbuch von Francis Ford Coppola (und dem gleichnamigen Roman von F. Scott Fitzgerald) inszenierte. Das Kino Bonaparte gibt es an der Place Saint-Sulpice seit vielen Jahren nicht mehr. Der Medientheoretiker Paul Virilio wurde erst viele Jahre später in Deutschland bekannt. Das ist eine winzige Filmgeschichte, wie man sie in der großen Filmgeschichtsschreibung vergeblich sucht.

Georges Perec - Ein Leben in Wörtern (Diaphanes Verlag)
"Georges Perec.  Ein Leben in Wörtern" (Diaphanes Verlag)

Literaturhinweise

George Perec. Ein Leben in Wörtern. Von David Bellos. Aus dem Englischen von Sabine Schulz. Diaphanes Verlag, Zürich 2023

Die Dinge. Eine Geschichte der sechziger Jahre. Von Georges Perec. Aus dem Französischen von Eugen Helmé. Diaphanes Verlag, Zürich 2023

Ein Mann der schläft: Roman. Aus dem Französischen von Eugen Helmé. Diaphanes Verlag, Zürich 2012.

Anton Voyls Fortgang. Von Georges Perec. Herausgegeben und übersetzt von Eugen Helmé. Nachbemerkung zur Neuauflage von Ralph Schock. Diaphanes Verlag, Zürich 2013.

W oder die Kindheitserinnerung. Von Georges Perec. Aus dem Französischen von Eugen Helmé. Diaphanes Verlag, Zürich 2012

Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen. Von Georges Perec. Aus dem Französischen und mit einer Nachbemerkung von Tobias Scheffel. Diaphanes Verlag, Zürich 2012

Kommentar verfassen

Kommentieren