© Solothurner Filmtage ("Bergfahrt")

Erinnerung und Aufbruch

Ein Fazit der 59. Solothurner Filmtage (17.-24.1.2024)

Veröffentlicht am
05. Februar 2024
Diskussion

Die 59. Solothurner Filmtage fanden vom 17. bis 24. Januar 2024 zum zweiten Mal unter der gemeinsamen Leitung von Niccolò Castelli (Programm) und Monica Rosenberg (Administration) statt. Sie überzeugten vor allem durch eine Reihe ausnehmend mutiger Filme und verzeichneten über 63.000 Eintritte, womit das Festival wieder an Vor-Covid-Zeiten anschließt. Ein Fazit über das wichtigste Filmfestival für den Schweizer Film.


Die Solothurner Filmtage sind im Januar so etwas wie eine Klassenzusammenkunft. Ein Treffen von Schweizer Filmschaffenden und Liebhabern des Schweizer Films. Auftakt des kommenden Festivaljahres und zugleich eine Rückschau auf das verflossene. Sieben kurze Tage und lange Nächte des Innehaltens, geprägt von Wiedersehensfreude und der leisen Trauer über diejenigen, die nicht mehr dabei sind. Dieses Jahr etwa der Tonmeister François Musy (1955-2023) und die Westschweizerin Madeleine Fonjallaz (1941-2023). Fonjallaz hat das Schweizer Filmschaffen in jungen Jahren als Dramaturgin und Autorin mitgeprägt, in ihren späteren Berufsjahren war sie in der Produktion tätig. Sie gehörte 1974 zu den Mitbegründern der Schweizerischen Vereinigung der Filmtechniker und war ab 1987 bis zu ihrer Pensionierung 2001 im Bundesamt für Kultur, Abteilung Film, tätig.


Das könnte Sie auch interessieren


Die Solothurner Filmtage liefern eine physische und filmische Momentaufnahme gegenwärtiger Befindlichkeiten. Aktuell etwa die LGBTQ+/Gender-Debatte, die Migrationsthematik, die Klimaveränderung. Nicht ausblenden lässt sich in Solothurn auch das gegenwärtige Weltgeschehen und seine Krisenherde, deren Folgen sich deutlich etwa in „Ukraine, le soldat disparu“ Frédéric Gonseth und Catherine Azad abzeichnen. Der Film geht der Frage nach, was der Krieg mit Familien macht, die ihre Kinder an die Front geschickt haben.


Erinnerungsarbeit

Abgesehen davon ist Solothurn auch ein Ort der Erinnerungsarbeit. Diese präsentiert sich meist in Form von (oft dokumentarischen) Filmen, die historische Ereignisse aufarbeiten. Dieses Jahr waren es unter anderen „Operation Silence – Die Affäre Flükiger“ von Werner Schweizer und „Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste“ von Adrian Winkler. Schweizer forscht mit detektivischer Akribie dem Fall eines im Herbst 1977 im Militärdienst unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommenen Rekruten nach. Winkler rollt die Entführung einer Swissair-Maschine durch palästinensische Terroristen 1970 auf.

Drama in der Wüste: "Swissair Flug 110" (Solothurner Filmtage)
Drama in der Wüste: "Swissair Flug 110" (© Solothurner Filmtage)

Erinnerungsarbeit betrieben – oder aber das filmkulturelle Erbe der Schweiz gepflegt – wird auch in Sonderprogrammen, welche den Fokus auf die Geschichte des Schweizer Films und der Schweizer Kinolandschaft legen. Damit treffen bei den Solothurner Filmtagen Vergangenheit und Gegenwart nicht nur unmittelbar aufeinander, sondern treten miteinander auch in einen Dialog.

Wie stark dies der Fall sein kann, sprang selten so sehr ins Auge wie bei der 59. Ausgabe der Filmtage (17.-24.1.2024). Es war das zweite Jahr unter der künstlerischen Leitung von Niccolò Castelli. Castelli erwähnte in seiner Eröffnungsrede den Film „Frauennot – Frauenglück“ von Edouard Tissé aus dem Jahr 1930 und schlug danach elegant den Bogen zum Eröffnungsfilm „Les paradis de Diane“ von Carmen Jaquier und Jan Gassmann.

„Frauennot – Frauenglück“ handelt von Frauen, die in einer Zeit, als solches noch verboten war, heimlich abtrieben und dadurch ihr Leben aufs Spiel setzten. Er wurde seinerzeit als „Aufklärungsfilm“ von der Zürcher Praesens-Film produziert und sorgte (nicht nur in der Schweiz) für Furore gesorgt. „Les paradis de Diane“ erzählt hingegen von einer jungen Frau, die nach der Geburt ihrer Tochter aus der Zürcher Klinik flieht und in der spanischen Küstenstadt Benidrome untertaucht. Dies nicht, weil sie sich in einer finanziellen, familiären oder sozialen Notlage befindet, sondern weil ihr im Moment der Geburt oder kurz danach bewusst wird, dass sie keine Mutter sein will. Sie fasst ihr Neugeborenes kein ein einziges Mal an. Einmal kehrt sie im Film heimlich nach Zürich zurück, um den Kindsvater, ihre Eltern und ihrer Tochter aus der Ferne zu beobachten; dann aber haut sie wieder ab. In der Unterhaltung mit einer Zufallsbekanntschaft redet sie von sich selbst als Frau, die ein Kind geboren hat, aber keine Mutter sein kann, und fragt sich, ob sie damit nicht ein Monster sei.


Asyl suchen in der Schweiz

„Les paradis de Diane“ lief im Rahmen der Wettbewerbssektion „Prix de Soleure“. Darin fanden sich viele bemerkenswerte Film wie „Operation Silence – Die Affäre Flükiger“, „Prisoners of Fate“, der vom Leben iranischer und afghanischer Flüchtlinge in der Schweiz erzählt, „Dieu est une femme“ über die matriarchalische Kuna-Gemeinschaft sowie die wunderschön-traurige Liebesgeschichte „Le vent qui siffle dansles grues“ von Jeanne Waltz.

Hauptpreis in Solothurn: "Die Anhörung" von Lisa Gerig
Hauptpreis in Solothurn: "Die Anhörung" von Lisa Gerig

Den „Prix de Soleure“ gewann Lisa Gerig mit „Die Anhörung“. Darin spielen vier Menschen, die in der Schweiz um Asyl bitten, zusammen mit Beamten der Migrationsbehörden ihre Anhörungen nach, bei denen sie ihre Notsituation und die Gründe ihrer Flucht darlegen sollen. Diese Anhörungen finden im geschützten Rahmen unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Die Beamten der Migrationsbehörden entscheiden auf ihrer Grundlage, ob die Gründe glaubhaft sind und ob den Anträgen stattgegeben wird. In „Die Anhörung“ werden im letzten Drittel des Films die Rollen von Bewerbenden und Interviewenden getauscht, wodurch sich die Machtverhältnisse umkehren. Das macht sichtbar, was zuvor nur in der Luft schwebte: die Frage, ob ein Mensch kraft seines Amtes wirklich befugt sein kann, durch seine persönliche Einschätzung darüber zu entscheiden, ob das, was ihm ein anderer erzählt, glaubwürdig ist oder nicht.


Kontinuierliche Förderung

Niccolò Castelli hat in seinem zweiten Jahr als künstlerischer Leiter einige Änderungen vorgenommen. Die augenfälligste ist die Verwandlung der bisher Erstlingswerken vorbehaltenen Programmsektion „Opera prima“ in die Reihe „Visioni“, wo nun auch zweite Filme gezeigt werden. Die Absicht dahinter ist, die Filmemacher über ihr Debüt hinaus kontinuierlicher zu fördern. In Frage kommen lange und mittellange Filme, die in „Bezug auf Form oder Inhalt kühne Entscheidungen treffen“.

Zu sehen waren in „Visioni“ unter anderen „8 Tage im August“ von Samuel Perriard, über die Freundschaft zweier Familien, die während eines gemeinsamen Ferienaufenthalts am Mittelmeer abrupt zerbricht. Aber auch Michael Karrers „Füür brännt“, ein kontemplativer Film, der drei Personengruppen vierundzwanzig Stunden lang durch ihren Alltag begleitet. Den „Visioni“-Preis gewannen Laura Cazadar und Amanda Cortés mit „Autour du feu“, in dem sich zwei ältere Revolutionäre mit jungen Aktivistinnen an einem Lagerfeuer über Fragen des zivilen Ungehorsams und radikale Formen des Widerstands unterhalten. Es sei ein „mutiger und riskanter Film, (…) der auf unerwartete, fesselnde Weise ein komplexes und gleichzeitig hochaktuelles Thema“ behandle, heißt es in der Begründung der Jury. Eine spezielle Erwähnung erhielt Michael Karrer für die Leichtfüßigkeit und Authentizität von „Füür brännt“.


Ein Jahr der Entdeckungen

Der Solothurner Publikumspreis ging an Luka Popadic und „Echte Schweizer“, der aus dem Leben von drei in der Schweiz wohnenden „Secondos“ (Kinder von Migranten) erzählt, die als stolze Armeeangehörige die Verteidigung des Landes trainieren, aber keine eindeutige Antwort auf die Frage haben, ob sie auch gegen das Land ihrer Herkunft in den Krieg ziehen würden.

"Echte Schweizer" von Luca Popadic (Ascot Elite)
"Echte Schweizer" von Luca Popadic (© Ascot Elite)

Bei den 59. Solothurner Filmtagen 2024 gab es ausnehmend viele herausragende Filme zu entdecken. Etwa Aldo Gugolz’ großartig unprätentiösen „Omegäng“, welcher der Deutschschweizer Mundartsprache und deren Veränderungen in den letzten 70 Jahren nachforscht. „Jakobs Ross“ von Katalin Gödrös, der nach dem gleichnamigen Roman von Silvia Tschui die tragische Geschichte einer musikalisch hochbegabten Dienstmagd aus dem 19. Jahrhundert schildert und Luna Wedler als großartige Sängerin entdecken lässt.

Ausgezeichnet ist auch Pierre Monnards „Bisons“, der aus der ländlichen Idylle des Schweizer Juras in die Abgründe illegaler Boxkämpfe in Frankreich führt und von der Hassliebe zweier ungleicher Brüder erzählt. Auch „Bergfahrt“ von Dominique Margot schaut genau hin und hört hin, wieso es in den Schweizer Bergen nicht mehr so idyllisch und heimelig ist wie vor noch zwanzig oder dreißig Jahren.


100 Jahre Praesens-Film und die künstlerische Intelligenz

Der von Castelli erwähnte „Frauennot – Frauenglück“ lief im Programm „Histoires du Cinéma Suisse“. Das Programm ehrte die in Zürich ansässige Praesens-Film AG, die 1924 von Lazar Wechsler und Walter Mittelholzer gegründet wurde und die Geschichte des Schweizer Films mit unvergesslichen Werken wie „Gilberte de Courgenay“, „Marie-Louise“ und „Heidi“ seit 100 Jahren prägt.

Das Jubiläum der Praesens-Film wird in der Schweiz nicht nur in Solothurn gefeiert. Aus Anlass des Jubiläums findet im Landesmuseum Zürich derzeit die Ausstellung „Close-Up. Eine Schweizer Filmgeschichte“ statt, die Praesens-Firmengeschichte findet sich auch in dem von Benedikt Eppenberger verfassten Buch „Heidi, Hellebarden & Hollywood. Die Praesens-Film-Story“.

Das zweite historische Programm der 59. Solothurner Filmtage war dem von den Trickfilmern Claude Luyet, Georges Schwizgebel und Daniel Suter vor über 50 Jahren in Carouge gegründeten Studio GDS gewidmet. Es trug den neckischen Titel „Studio GDS – Die künstlerische Intelligenz“. In Solothurn wurden alle 42 dort entstandenen Kurzfilme sowie der Langfilm „Gwen et le livre de sable“ von Jean-François Laguionie aus dem Jahr 1985 gezeigt. Eine kleine Galerie präsentierte zudem Baumzeichnungen von Daniel Suter. Dort konnte man sehen, wie es Suter geschafft hat, alle Bäume ohne alles Wurzelwerk zu zeichnen, quasi als flach abgeschnittene und verrückbare Holzfiguren. Den Galeristen provozierte dies zum trockenen Kommentar: „Typisch Trickfilmer!“

"Gwen et le livre de sable" von Jean-Francois Laguionie (Solothurn)
"Gwen et le livre de sable" von Jean-François Laguionie (© Solothurn)

Auch das ist Solothurn. Der verschmitzte Charme der Einheimischen, die sicher mit zu den größten Fans der Filmtage gehören, sich gern an die früheren Jahre erinnern, in denen bis lange nach Mitternacht diskutiert wurde, und noch heute gern für einen Schwatz zu gewinnen sind. Denn in Solothurn hat man, bevor das Schweizer Filmjahr so richtig auf Touren kommt, ein bisschen Zeit. Nicht nur für einen kurzen Schwatz. Sondern auch um über das Leben und die Rolle, die der Film in der Welt spielt, bevor die künstlerische Intelligenz von der künstlichen verdrängt wird.

Kommentar verfassen

Kommentieren