© Neue Visionen (aus "Maria Montessori")

Neue Frauen - Léa Todorov

Ein Interview mit der Regisseurin Léa Todorov über ihr Spielfilmdebüt „Maria Montessori“

Veröffentlicht am
20. März 2024
Diskussion

La Nouvelle Femme“ heißt der Debütfilm der französischen Regisseurin Léa Todorov im Original, der in Deutschland als „Maria Montessori“ (ab Donnerstag, 7. März) in die Kinos kommt. Darin geht es nicht nur um die berühmte Reformpädagogin, sondern um die grundlegendere Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der Frauen ihr Recht auf ein gesellschaftliches Leben einforderten.



Was hat Sie an der Figur von Maria Montessori fasziniert?

Léa Todorov: Ich bin auf María Montessori bei der Recherche zu einem Dokumentarfilm gestoßen. Dabei ging es ging um Reformpädagogik im 20. Jahrhunderts, zwischen den beiden Weltkriegen. In dieser Zeit war Montessori eine berühmte Pädagogin und irgendwie auch eine Diva. Alle haben nur über sie gesprochen. Sie war für diese Zeit eine unglaublich vitale Frau. Das hat mich fasziniert, und ich habe mehr über ihre Lebensgeschichte recherchiert. Was ich fand, war wie ein Roman. Das war der Stoff für einen Spielfilm.

War Ihnen klar, dass sich der Film anhand des Kontrastes von zwei so unterschiedlichen Frauen entwickeln würde? Maria Montessori als selbstbewusste Frau, die mit ihrer Arbeit aber kein Geld verdient, und die Kurtisane Lili d’Alengy, die wirtschaftlich unabhängig ist, aber eben nur in dieser patriarchalischen Männerwelt überleben kann?

Todorov: Es hat viel Zeit gebraucht, um das zu entwickeln. Ich brauchte eine französische Frauenfigur, weil der Film auch in Frankreich finanziert werden sollte und deshalb in Teilen französisch sein musste. Es gibt einen sehr berühmten Roman von Émile Zola, „Nana“, der von einer solchen Figur handelt. Ich hasse diesen Roman, weil darin alles nur von einem männlichen Gesichtspunkt aus erzählt wird und die Stärke der Protagonistin und ihre Freiheit ignoriert werden. Bei der Recherche bin ich auf viele echte, charakterstarke Frauen gestoßen, die Schriftstellerinnen oder Künstlerinnen waren oder bisexuell lebten. Frauen, die den Schwachpunkt der Gesellschaft entdeckt hatten und ihn für ihren Zwecke benützten. Der Schwachpunkt waren Männer, die schöne Frauen idealisierten und für diese Frauen so viel Geld auszugeben bereit waren, dass diese dadurch finanziell unabhängig wurden und es zu einer gewissen Machtposition brachten: Sie hatten Einfluss und fungierten wie Influencerinnen. Ich wollte diese Welt im Gegensatz zum Umfeld von Montessori darstellen. Wenn ich dafür eine Hausfrau gewählt hätte, wäre das für den Film längst nicht so dynamisch gewesen.

Die französische Filmemacherin Léa Todorov (imago/ABACAPRESS/Nasser Berzane)
Die französische Filmemacherin Léa Todorov (© imago/ABACAPRESS/Nasser Berzane)

Diesen Frauen stehen im Film keine gleichwertigen Männerfiguren gegenüber. Selbst Giuseppe Montesano, der Lebensgefährte von Maria Montessori, bleibt enttäuschend konventionell.

Todorov: Montesano hat mich wirklich sehr beschäftigt, weil er für diese Zeit eigentlich ein sehr progressiver Mann war. Er war sogar an einer feministischen Zeitung beteiligt: „Per le donne“, Für die Frauen. Das fand ich sehr erstaunlich. Interessanterweise hat er geglaubt, dass das mit Montessori klappen könnte. Die gesellschaftlichen Zwänge und die Tradition waren dann aber doch stärker. Vielleicht hatte er auch das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren oder dass diese Frau für ihn zu viel ist. Es war mir wichtig, zu zeigen, wie schwierig es ist, gegen die Konventionen der Gesellschaft zu sein.

Eine vielschichtige weibliche Figur ist auch die Mutter von Montesano. Die verkörpert in ihrem kurzen Auftritt so etwas wie die alte Welt, das „ancien regime“.

Todorov: Ja, die Mutter von Montesano ist eine Figur aus der Vergangenheit. Aber sie besitzt noch Macht, besonders gegenüber ihrem Sohn. Sie hat im Film nur eine Szene, aber die bleibt im Gedächtnis hängen.

Historische Themen spiegeln stets auch die Gegenwart wider. Worin lagen die Schwierigkeiten, beim Debütfilm einen historischen Spielfilm zu machen?

Todorov: Es ist manchmal schwierig, die Probleme der Zeit zu vermitteln. So wollte Maria Montessori ihren Liebhaber Giuseppe Montesano nicht heiraten. Ich habe längere Zeit gebraucht, um das zu verstehen. Im Film hat man dafür nur hundert Minuten. Es muss deshalb genügend Elemente geben, damit ein Verständnis entstehen kann, ohne zu explizit zu werden. Das war ein Problem, den damaligen Zeitgeist zu verstehen. Ein anderes bestand darin, diesen Geist so zu vermitteln, ohne das Geld für teure bauliche Rekonstruktionen zu haben. Man muss viele kleine Lösungen finden. Das war eine lange Arbeit.

Bezieht sich der Originaltitel „La Nouvelle Femme“ auf Montessori oder auf ihre Freundin?

Todorov: Auf beide. Ich mochte diesen Titel, weil es nicht nur um Maria Montessori geht, sondern auch um diese andere Frau Lili. Es ist aber auch eine Referenz, denn der Begriff „Die neue Frau“ war sehr bekannt und wichtig in dieser Zeit. In den USA und mehreren europäischen Ländern gab es solche Frauen, die zu studieren begannen und Plätze in der Gesellschaft einforderten, die ihnen früher nicht zugänglich waren. Lili ist nicht im gleichen Maße eine „neue Frau“ wie Maria, weil Montessori die Macht der Wissenschaft verkörpert. Sie hat selbst über diese „neue Frau“ gesprochen. Montessoris feministische Reden sind nicht so bekannt. Aber für ihre Zeit war sie eine echte Feministin. Sie war in Berlin und in London auf Frauenkonferenzen und hat sehr viel über die Notwendigkeiten und die Bedürfnisse von Frauen gesprochen. Sie glaubte, dass die Frauen ein Recht haben, in der Gesellschaft eine größere Rolle zu spielen. Dafür war es notwendig, dass die Frauen von zuhause wegkommen und sich Wissen in allen Fächern aneignen.

Jasmine Trinca (l.) und Leïla Bekhti in "Maria Montessori" (Neue Visionen)
Jasmine Trinca (l.) und Leïla Bekhti in "Maria Montessori" (© Neue Visionen)

Maria Montessori kam aus einem katholischen Umfeld. Welche Bedeutung hatte die Religion für sie und inwieweit war sie in dieser religiös-patriarchalischen Gesellschaft verwurzelt?

Todorov: Meiner Meinung nach hat sich ihr Verhältnis zur katholischen Religion während ihres Lebens verändert. Als jüngere Frau, wie sie im Film zu sehen ist, war eher die Kultur für sie prägend. In ihrem weiteren Leben hat die Religion eine wachsende Rolle gespielt. Im Film geht es aber mehr um ihre Umgebung, die religiös geprägt ist, und weniger um ihre eigene Haltung. Das wäre auch schwieriger darzustellen gewesen, dass jemand mit feministischen Ideen und wissenschaftlichem Wissen auch noch religiös sein kann. Wir vergessen allzu leicht, wie prägend eine Gesellschaft ist. In Italien, aber auch in Deutschland, war die Religion damals noch eine äußerst einflussreiche Macht. Es hat Montessori wohl auch Mut gemacht, sich an der Opferbereitschaft von Christus ein Beispiel zu nehmen. Auch wenn der Weg schwierig ist, gibt es am Ende doch ein Licht. Ich glaube, dass die Religion ihr geholfen hat, ihren Weg zu finden.

Neben den beiden Hauptdarstellerinnen beeindrucken die zahlreichen Nebendarsteller, besonders die beeinträchtigten Kinder.

Todorov: Die vielen Kinder waren etwas sehr Besonderes. Die Kinderfiguren haben ja ganz unterschiedliche Schwierigkeiten oder besondere Bedürfnisse. Manche haben mehr physische Probleme, andere eher psychische. Die Gesamtheit der Kinder ist eine Art dritte Hauptfigur im Film. Für das Casting haben wir in Vereinen und Schulen und auch im Internet gesucht und dann einen Workshop organisiert, um den Film vorzubereiten. Auf diese Weise haben wir auch Rafaëlle Sonneville-Caby gefunden, die Lilis Tochter Tina spielt. Sie war unglaublich.

„Maria Montessori“ ist Ihr Spielfilmdebüt. Ein historischer Film über Reformpädagogik, Feminismus und die Arbeit mit beeinträchtigten Kindern. Wie haben Sie diesen Film finanziert?

Todorov: Ich habe lange an dem Drehbuch geschrieben, mit dem wir dann ziemlichen Erfolg hatten. Wir haben nicht alles geschafft und nicht alle Mittel bekommen, die wir gerne gehabt hätten. Es war weniger Geld, als wir gebraucht hätten. Aber das Drehbuch ist gut aufgenommen worden. Wir haben in zwei Ländern Finanzierungen gefunden. Es gab zwar durchaus Bedenken, ob ich das als Debütantin schaffen würde, und es war die große Leistung der Produzenten, die Menschen davon zu überzeugen, dass ich es schaffe.

Vor zehn oder 20 Jahren gab es sehr wenige weibliche Regisseurinnen. Regie war genauso eine Männerdomäne wie Kamera oder Produktion. Wie stellt sich die Situation heute dar?

Todorov: Es hat sich deutlich etwas verbessert. Wir sind alle froh über den Erfolg von Justine Triet, die nicht nur die „Goldene Palme“ gewonnen hat, sondern auch in den USA großen Erfolg hat. Und das nicht, weil sie eine Frau ist, sondern weil „Anatomie eines Falls“ so überzeugend ist. Es gibt natürlich immernoch viele Schwierigkeiten, auch wenn ich am Set nichts davon gespürt habe. So vieles muss sich weiter verändern. Frauen sollten die Hälfte der Filmwelt sein. Mein Film hat gewiss davon profitiert, dass sich die Fördergremien verändert haben. Dort sitzen jetzt auch viele Frauen. Ich bezweifle, ob mein Film eine Finanzierung gefunden hätte, wenn nur Männer darüber entschieden hätten. Es geht darin schließlich um Mutterschaft und andere „langweilige“ Themen. Ich bin einmal mit einer Kommission konfrontiert gewesen, in der kein einzige Frau saß. Das war schlicht furchtbar! Ich habe mich danach richtig schlecht gefühlt. Weil das Gremium an mir zweifelte und eine anscheinend davon ausging, dass eine solche Geschichte nicht interessant zu erzählen wäre.

Kampf um eine neue Pädagogik: "Maria Montessori" (Neue Visionen)
Kampf um eine neue Pädagogik: "Maria Montessori" (© Neue Visionen)

Es war für mich eine interessante Szene im Film, wenn Montessori vor der versammelten Kommission endlich Erfolg hat. Doch sie springt auf und sagt, dass die ganze Pädagogik nur durch Zuneigung und Liebe zum Ziel führen kann. Ist das ein Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Wahrnehmung?

Todorov: Was Maria Montessori da sagt, ist sehr wichtig. Das ist eine Einsicht, zu der aber nicht nur Frauen gelangen können. Auch wenn Frauen dies durch die Mutterschaft von vornherein wissen. Entscheidend aber ist, dass diese sogenannten weiblichen Eigenschaften für die ganze Gesellschaft nützlich sind. Das, was Montessori als Mutterschaft bezeichnet, ist Fürsorge, etwas, das man auf Englisch als „care“ bezeichnet. Das ist ein großer Gewinn für eine Gesellschaft. Wenn sich diese Fürsorge aus dem privaten Bereich löst und auf die Allgemeinheit übergreift, verbessert dies auch das Zusammenleben aller.


Hinweis

Vor wenigen Wochen erschien das Buch „Die langen Schatten Maria Montessoris“, das für einigen Wirbel gesorgt hat und in dem sich die österreichischen Pädagogikprofessorin Sabine Seichter kritisch mit dem Denken von Maria Montessori auseinandersetzt. Die daraus resultierende Diskussion über die Beeinflussung von Montessori durch rassistisches oder eugenisches Denken war zum Zeitpunkt des Interviews kein Thema. Weiterführende Text zur Debatte um Maria Montessori finden sich beispielsweise in der taz, Deutschlandfunk Kultur, der Furche oder auf news4teachers.de.

Kommentar verfassen

Kommentieren