Kathryn Bigelow schickt in „Gefährliche Brandung“ (1991) eine Gruppe von Surfern auf Bankraub-Tour, vermummt mit Gummimasken, die Gesichter von Ex-Präsidenten zeigen. Der achte Beitrag zum Blog „Disziplin & Kontrolle“ stellt den Surfer-Thriller in Zusammenhang mit den Theorien von Gilles Deleuze über die Kontrollgesellschaft, die auch dem Heist-Movie ständig neue Bildstrategien abverlangt.
„Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst“, schreibt Gilles Deleuze in einer am 1. Mai 1990 veröffentlichten Notiz zum Übergang des gesellschaftlichen Organisationsmodus der Disziplin hin zur Kontrolle. Er fährt fort: „Der Mensch der Disziplinierung war ein diskontinuierlicher Produzent von Energie, während der Mensch der Kontrolle eher wellenhaft ist, in einem kontinuierlichen Strahl, in einer Umlaufbahn.“ Zwei Monate später beginnt der Dreh von Kathryn Bigelows „Gefährliche Brandung“ (1991). Der Film folgt Bodhi (Patrick Swayze) und seinen Ex-Präsidenten, einer Gruppe Surfern, die Banküberfälle durchführen, vermummt mit karikaturesken Gummimasken von Lyndon B. Johnson, Richard Nixon, Jimmy Carter und Ronald Reagan. Dabei interessieren sie sich nicht für das Kapital im Tresor, sondern bloß für die Scheine in den Kassen. Von dem geraubten Geld finanzieren die Surfer sich ihre nomadische Lebensform, die ganz nach der Abfolge der Gezeiten und meteorologischen Jahresabschnitte rhythmisiert ist.
„Die Kontrolle ist kurzfristig und auf schnellen Umsatz gerichtet, aber auch kontinuierlich und unbegrenzt“, schreibt Deleuze, „während die Disziplin von langer Dauer, unendlich und diskontinuierlich war.“ Die Überfälle der Surfer dauern nicht länger als 90 Sekunden. Sie sind als unendliche Serie konzipiert. Während der klassische Heist-Movie der Disziplinargesellschaft – der eine letzte Job – die finanzielle Unabhängigkeit mit einem Schlag versprach, haben die Ex-Präsidenten sich den Banküberfall als „Way of Life“ angeeignet. Er stellt nicht mehr länger ein Ereignis dar, sondern einen Modus.
Strategien der Regeneration
Intensive Arbeit erfordert intensive Erholungsmaßnahmen. Charles Bukowski berichtet von ihnen, wenn er schreibt, dass man nach der Fabrikschicht nicht ins Theater oder ins Kino oder sonst wohin geht. Man geht in die Eckkneipe, betrinkt sich, wird bestenfalls in eine Schlägerei verwickelt. Die Freiheit eines blauen Auges gegen den disziplinarischen Zwang hinterm Fabriktor. Die Kontrollgesellschaft entzerrt akkordeonartig die Zyklen der An- und Entspannung. Das Homeoffice zersetzt den von der Stechuhr begrenzten Raum, die von der Fünftagewoche begrenzte Zeit. Arbeit und Regeneration sind nicht länger zwei sich gegenseitig ausschließende Blöcke. Sie fallen ineinander.
So auch für Bodhi und seine Ex-Präsidenten. Für sie bedeutet der Bankraub gleichermaßen Verausgabung wie Lustgewinn (Adrenalinrausch). Ebenso ist das Surfen nicht bloß Freizeitaktivität, sondern eine für die Lebensform unerlässliche Kraftanstrengung, in der das Leben selbst aufs Spiel gesetzt wird. Das Surfen ist die körperliche Entsprechung eines Bewusstseinszustands, der im Zeichen der Flexibilität steht. Das durch den Nixon-Schock vom Goldstandard entkoppelte Geld bewegt sich in Wellenlinien. Seit der Finanzialisierung der Weltwirtschaft sind wir alle Surfer. Die Sportart der Disziplinargesellschaft hingegen ist das Boxen. Im Boxkampf ist es das Ziel, den im Ring fixierten Körper des Gegenübers in den strikt getakteten Runden buchstäblich aus der Zeit zu schlagen. Die Körpertechnik des Boxens macht den Menschen zur Maschine, die Knockouts produziert.
Das Indiz der Maschine
Die Abfolge der verschiedenen Gesellschaftsformen drückt sich durch ihre charakteristischen Maschinentypen aus. Die überkommene Souveränitätsgesellschaft, die um ihren personifizierten Leviathan strukturiert ist, hantiert, so Deleuze, mit einfachen Maschinen (Hebel, Flaschenzüge, Uhren). Die Disziplinargesellschaft, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich voll entfaltete und nach dem Zweiten Weltkrieg zu mutieren begann, nutzt energetische Maschinen, wie sie beispielsweise für die Fließbandfertigung gebraucht werden. Die Kontrollgesellschaft schließlich artikuliert sich durch Informationsmaschinen (Computer, Smartphones, Überwachungskameras, das Internet der Dinge).
Das Kino entstand im späten 19. Jahrhundert und ist charakteristisch für die disziplinarische Gesellschaftsform, die es hervorgebracht hat. Das disziplinarische Einschließungsmilieu (zum Beispiel die Fabrik) ist darauf ausgerichtet, den Körper im Raum zu verteilen und in der Zeit anzuordnen. Ein Blick auf die Slapstick-Komödien der Stummfilmzeit genügt, um zu begreifen, dass das Kino das Gegenstück zu dieser Operation ist. „Wie hätte er auch in einer mechanisierten Welt lächeln können?“, schreibt Kracauer über Buster Keaton in einer Reflexion über die Stummfilmkomödie aus dem Jahr 1951, „Sein unabänderlicher Gleichmut war ein Zugeständnis, daß in dieser Welt die Maschinen und Apparaturen die Gesetze bestimmen und daß es besser wäre, wenn er sich ihren Erfordernissen anpaßte.“ Die Apathie Keatons ist politisch, denn hätte er je gelächelt, „so hätte er seine Trauer verraten und einen Stand der Dinge gutgeheißen, in der er selbst wie ein kleines technisches Gerät sich verhalten mußte.“ Dieser ‚Stand der Dinge‘, von dem Kracauer schreibt, ist die Disziplinargesellschaft.
Diese Texte zum Heist-Movie stellen den Versuch dar, in ihrer chronologischen Aufeinanderfolge etwas offenzulegen über die tektonischen Verschiebungen der Gesellschafts- und Lebensformen, aus denen die filmischen Überfallserzählungen hervorgehen. Dass die kleine Notiz, die Deleuze vor 34 Jahren schrieb, auch für unser heutiges Miteinander noch wirkmächtig ist, zeigt sich in Passagen wie dieser: „Man braucht keine Science-Fiction, um sich einen Kontrollmechanismus vorzustellen, der in jedem Moment die Position eines Elements in einem offenen Milieu angibt, Tier in einem Reservat, Mensch in einem Unternehmen (elektronisches Halsband).“
Beschreibt Deleuze nicht eigentlich eine – zugegebenermaßen durchaus unelegantere – Alternative zum Smartphone? Die Kontrolle ist liberaler als die Disziplin, ihr Griff dafür umso strenger. Ihre Informationsmaschinen operieren in einer Welt zweiter Ordnung, die für das menschliche Auge nicht nachzuvollziehen ist. In seiner Kinotheorie zitiert Kracauer Hitchcock: „Die Verfolgungsjagd scheint mir der endgültige Ausdruck des filmischen Mediums zu sein.“ Für den Film der Disziplinargesellschaft – für ihre mechanische Welt – mag das zutreffen. Um einen klassischen Heist-Movie, dem dieselbe Logik innewohnt wie der Verfolgungsjagd (der menschliche Körper wird mit einer Reihe von Hindernissen konfrontiert, die es zu überwinden gilt), im Rahmen der Kontrollgesellschaft zu erzählen, braucht es hingegen neuartige Bildstrategien. Sich zu weigern, ein Smartphone zu filmen, genügt nicht!
Zusätzlich zu den für die gesellschaftlichen Organisationsformen charakteristischen Maschinentypen identifiziert Deleuze die ebenso charakteristischen Gefahren, welche in den Maschinensorten schlummern. Die energetische Maschine der Disziplin ist anfällig für Entropie und Sabotage, die Informationsmaschine der Kontrolle dagegen für Störung und den elektronischen Virus. Ist Chaplin der Archetyp des unfreiwilligen Saboteurs im Spielfeld der Disziplin, so gleichen Bodhi und seine Ex-Präsidenten mehr einem subversiven Virus, der das offizielle Zeichen (zum Beispiel das Gesicht des Staatsoberhaupts Ronald Reagans) aushöhlt und es gegen den Apparat richtet, den es einst zierte.
Literaturhinweise
Postskriptum über die Kontrollgesellschaften. Von Gilles Deleuze. In: Neue Rundschau, 3/1990.
Kino. Von Siegfried Kracauer. Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt am Main 1974.
Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Von Siegfried Kracauer. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1985.
Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium
Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.
Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.