© 2001 Sedif/Pathé Films/France 2 Cinéma (Emmanuelle Devos in „Lippenbekenntnisse“)

Disziplin & Kontrolle (X): „Lippenbekenntnisse“

SKS-Blog „Disziplin & Kontrolle“ (X): Der Liebesthriller „Lippenbekenntnisse“ verhandelt Rollenbilder des Heist-Movies unter den Bedingungen einer von Sehnsucht und Begehren geprägten Beziehung neu

Veröffentlicht am
28. Oktober 2024
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In dem Liebesthriller „Lippenbekenntnisse“ (2001) von Jacques Audiard werden eine fast taube Sekretärin und ein junger Kleinkrimineller zu einem unerwarteten Duo, das einen Nachtclubbesitzer ausrauben will. Im zehnten Beitrag zum Blog „Disziplin & Kontrolle“ geht es um einen Film, in dem die Rollenbilder des Heist-Movies unter den Bedingungen einer von Sehnsucht und Begehren geprägten Beziehung neu verhandelt werden.


Da ist diese Frau, eine Sekretärin für eine Pariser Immobilienfirma, ihr Name ist Carla (Emmanuelle Devos). Weil Carla hörbehindert ist, hat sie gelernt, Lippen zu lesen. Sie ist einsam, ihre Arbeit und ihr Gehör isolieren sie. Die Einsamkeit macht Carla sehnsüchtig. Sie macht Carla zu Schutzpatronin des Kinos, in dem immer andere stellvertretend für uns lieben. Wenn Carla in der Kantine das Paar am Nebentisch beobachtet, archiviert sie deren Gesten (ihren Kuss auf seinen Handteller; die wie zum gemeinsamen Gebet ineinandergelegten Finger der zwei sich Gegenübersitzenden). Heimlich lauscht sie den Untertiteln der von Lippen gesäumten Mundöffnungen, die sich in der Stille zusammenziehen. „Schon der Kuß“, so Freud, „hat Anspruch auf den Namen eines perversen Aktes, denn er besteht in der Vereinigung zweier erogener Mundzonen an Stelle der beiderlei Genitalien.“

Carla kennt nur dieses indirekte, ins Träumen ausgelagerte Begehren. Sie ist der Prototyp der Perversen. Dies ist der Grund, weshalb Carla in Jacques Audiards „Lippenbekenntnisse“ (2001) die politische Repräsentantin derer ist, denen, abgesondert durch die Leinwand, nichts weiter übrigbleibt, als das Geschehen in der filmischen Welt voyeuristisch zu beobachten und belauschen. Hinzu kommt, dass Carlas aus der Schwerhörigkeit gewonnene Fähigkeit des Lippenlesens nicht nur ihrem Sehen, sondern auch ihrem Hören eine Gerichtetheit verschafft. Carla nimmt die Welt wahr, wie eine Filmeditorin es tut: Ein Fernglas erlaubt es ihr, von einem Häuserdach aus in das verglaste Leben der anderen einzudringen, aus sicherer Distanz an deren Geschichten teilzuhaben. Und ist das Geschrei des Babys ihrer Freundin zu laut, nimmt sie ihr Hörgerät ab und schaltet ihre Umgebung stumm.

Als Lippenleserin ist Carla (Emmanuelle Devos) eine „Spezialistin“ ganz im Sinne des Heist-Movies (© IMAGO / Prod. DB)
Als Lippenleserin ist Carla eine „Spezialistin“ ganz im Sinne des Heist-Movies (© IMAGO / Prod. DB)


Formlose Herrschaft

Und dann ist da Paul (Vincent Cassel), der Azubi, den Carla einstellt. Paul musste Zeit absitzen für schweren Raub („Banken, Autos, Überfälle … alles.“). Nun ist er auf Bewährung und heillos überfordert von der Hektik des Büroalltags, die sinnbildlich für das Regime der Kontrollgesellschaft steht, für ihre Computer und Scanner, die ebenso benutzerfreundlich wie unerbittlich sind. In den Worten Richard Sennetts: „In modernen Organisationen, die Konzentration ohne Zentralisierung praktizieren, ist die organisierte Macht zugleich effizient und formlos.“ Im gleichen Maße, wie Carla Paul legalisiert, ihn vertraut macht mit der Technik des Büros, illegalisiert Paul Carla. Mal bricht er in das Auto eines ihrer Kollegen ein und verschafft ihr Dokumente, mal schlägt er einen Mann zusammen, damit dieser ihr die Genehmigung erteilt, die stillgelegten Arbeiten an der Baustelle fortzusetzen.

Obendrein ist Paul – wie für die Kontrollgesellschaft üblich – verschuldet. Der Nachtclubbesitzer Marchand (Olivier Gourmet) will seine 70.000 Franc, also kündigt Paul bei der Immobilienfirma und fängt an, in Marchands Club als Barkeeper zu arbeiten. „Routine kann“, so Sennett, „erniedrigen, sie kann aber auch beschützen. Routine kann die Arbeit zersetzen, aber auch ein Leben zusammenhalten.“ Das Leben der Delinquenz – die Safdie-Brüder nennen es „Fast Life“ – ist geprägt durch das Fehlen eben dieser formgebenden Routine. Die Kontrollgesellschaft mit ihren nicht zentralisierten Netzwerken der Macht höhlt die disziplinarischen Institutionen aus, zwingt uns, flexibel zu sein, macht uns zu Schwemmgut, das in den Gezeiten des Marktes treibt.


Höfische Liebe

Nachdem Paul in der Toilette des Büros von einem Handlanger Marchands zusammengeschlagen wird, nimmt Carla sein blutbeflecktes Hemd nach Hause, um es zu reinigen. Weil das Begehren Carlas nach Paul bloß indirekt fließen kann, wird das blutige Kleidungsstück, der in ihm aufgespeicherte Geruch, zum Ersatz für den abwesenden Körper. Gewissermaßen praktiziert Carla eine Form der höfischen Liebe, wie sie vom westeuropäischen Adel im Mittelalter praktiziert wurde, eine Kulturtechnik der nie eingelösten Sehnsucht, die durch ihr Hinauszögern potenziert wird. Deleuze und Guattari schreiben hierzu: „Der Verzicht auf äußeren Lustgewinn oder seine Verzögerung, sein Aufschub bis ins Unendliche, ist im Gegenteil ein Hinweis darauf, daß ein Zustand erreicht wurde, wo es dem Begehren an nichts mehr fehlt, es sich von selber erfüllt und sein Immanenzfeld errichtet.“

Zwischen Paul und Carla steigert sich das Begehren immer weiter (© IMAGO / Prod. DB)
Zwischen Paul und Carla steigert sich das Begehren immer weiter (© IMAGO / Prod. DB)

In diesem Immanenzfeld, diesem Zauberbann des Begehrens, bedarf noch die kleinste Geste, noch das kürzeste Wort (die Überraschung/Erregung ausdrückende Interjektion „O“ ist das kürzeste Wort der deutschen Sprache), noch der verstohlenste Blick akribischer Entzifferungsarbeit: „Die kleinste Zärtlichkeit kann genauso stark wie ein Orgasmus sein.“ Diese höfische Empfindungsweise entspricht der kinematografischen Suggestivkraft, zum Beispiel in den Filmen von Robert Bresson: „Wo es nicht alles gibt, aber wo hinter jedem Wort, jedem Blick, jeder Geste etwas steckt.“ Das Kino kultiviert, ebenso wie der Minnedienst, die Sehnsucht als Lebensform.

Paul vereint die Genrefiguren des praxisorientierten Manns der Tat und des Drahtziehers in sich, die lippenlesende Carla entspricht der fürs Heist-Movie unerlässlichen Spezialistin. Während Paul für Marchand an der Bar steht, überwacht sie vom gegenüberliegenden Häuserdach mit einem Fernglas die Wohnung des Nachtclubbesitzers, in der dieser sich regelmäßig mit den berüchtigten Carambo-Brüdern trifft, um einen Raub zu planen. Audiard erzählt somit ein Heist-Movie zweiter Ordnung, in dem die Räuber selbst überfallen werden. Mit diesem Kniff umgeht er das Problem der durch die Informationstechnologie entleerten Tresore und des sich immer engmaschiger zuziehenden Netzes der Überwachungstechnologie, welches die Erfolgschancen eines Banküberfalls praktisch gegen null gehen lässt.

Carla erreicht die höchste Potenz ihrer höfischen Empfindungsweise in dem Augenblick, in welchem der Überfall schiefgeht. Zwar konnten sie das Geld entwenden, Marchand aber hat Paul überwältigt und an einen Heizkörper gekettet. Nun steht Paul am Fenster des Badezimmers und flüstert der auf dem gegenüberliegenden Dach stehenden Carla seinen Plan zu, während Carla seine Lippen durch das Fernglas liest. Carlas gehauchte Affirmationen als Reaktion auf die Mundbilder-Folgen Pauls sind dermaßen suggestiv, dass sich durch sie das Verhältnis von Nähe und Distanz offenbart, welches das kinematografische Begehren aller still im Dunkeln Sitzenden ausmacht.

Carla und Paul bewegen sich im einem Heist-Movie zweiter Ordnung (© IMAGO / Capital Pictures)
Carla und Paul planen den Überfall auf einen Berufsverbrecher (© IMAGO / Capital Pictures)

Literaturhinweis

Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Von Richard Sennett. Berlin Verlag, Berlin 1998.

Notizen zum Kinematographen. Von Robert Bresson. Alexander Verlag, Berlin 2007.

Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Merve Verlag, Berlin 1992.

Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Von Sigmund Freud. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2009.


Zum Siegfried-Kracauer-Stipendium

Das Blog „Disziplin & Kontrolle“ von Leo Geisler über die Wandlungen im Heist-Genre entsteht im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums, das der Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit MFG Filmförderung Baden-Württemberg, der Film- und Medienstiftung NRW und der Mitteldeutschen Medienförderung (MDM) jährlich vergibt.

Die einzelnen Beiträge des aktuellen Stipendiums, aber auch viele andere Texte, die im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums in früheren Jahren entstanden sind, finden sich hier.

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