Der Pannwitzblick

Dokumentarfilm | BR Deutschland 1990 | 90 Minuten

Regie: Didi Danquart

Dokumentarische Studie über das Leben behinderter Menschen und ihre Versuche der Selbstverwirklichung. Zugleich eine Auseinandersetzung mit dem brisanten Themenkomplex "Unwertes Leben". Ein engagierter Film, der rigoros für die Belange Behinderter eintritt, denen Unverständnis und Hilflosigkeit der Umwelt die Selbstbehauptung noch immer erschweren. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
BR Deutschland
Produktionsjahr
1990
Produktionsfirma
Medienwerkstatt Freiburg/WDR
Regie
Didi Danquart
Buch
Karl-Heinz Roth · Didi Danquart
Kamera
Ciro Cappellari · Dietrich Reichenbach
Musik
Cornelius Schwehr
Schnitt
Simone Bräuer
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Männerarme säulengleich, ein gesundes deutsches Mädel schaut fasziniert zwischen ihnen hindurch, und über das Hakenkreuz auf der Armbinde eines Mannes ("Triumph des Willens", Leni Riefenstahl). Und da ist die junge Frau ohne Arme, Contergan-Opfer, Opfer der Medizingeschichte, Lehrfilmgeschichte, die kein Opfer ist, sein will.

Der Pannwitz-Blick, das ist der Blick der Verachtung, Geringschätzung, mit dem Nicht-Behinderte auf Behinderte hinabsehen. Behinderte, das ist unwertes Leben, lehrte die faschistische Ideologie des Dritten Reiches; Behinderte sind unproduktiver Menschenüberschuß, der die Produktivität der gesunden, arbeitenden Volksmasse vermindert (sie liegen ihnen auf der Tasche, man muß sich um sie kümmern, in sie investieren, ohne einen irgendwie gearteten Wert - geschweige denn einen Mehrwert - zu erhalten); Behinderte verpesten das Erbgut des Volkes, denn sie sind von Natur aus häßlich, hindern das Volk daran, in Schönheit aufzuerstehen; Behinderte sind überflüssig, und was überflüssig ist, muß weg.

Behinderungen kann man vertuschen; Prothesen sehen so aus wie echte Arme oder Beine, nur sind sie keine, und was für den Nicht-Behinderten zu einer optischen Erleichterung, Beruhigung, Befriedigung führt, kann für den Behinderten eine Qual sein.

Drei Stränge verfolgen die Freiburger Filmemacher durch drei Zeiten hindurch: Behinderung, Euthanasie, Prothesen. Drei Behinderte stehen im Zentrum der Argumentation, ihre Schicksale sind mehr oder weniger der Ausgangspunkt für die Reflexionen. Theresia Degener sieht nach normalen Standards sehr gut aus, nur fehlen sehr unnormal die Arme. Als sie noch klein war, wollten ihre Eltern diesem Zustand Abhilfe schaffen und ließen für sie spezielle Prothesen entwickeln. Sie wurde der Star eines Werbefilms für Armprothesen. Sie mußte mit Puppen spielen, was sie haßte, vor allen Dingen aber durfte sie auf keinen Fall mit ihren Füßen, Zehen arbeiten; sie mußte die Armprothesen verwenden. Ganz am Ende erst bekommt man den Film zu sehen.

Die Montage schafft es, eingefleischte Sichtweisen, Seh-Prinzipien auf den Kopf zu stellen. Der Werbefilm verharrt zumeist in der Halbtotalen, macht die Prothese zum Grund, Seh-Aufhänger, den ganzen Menschen zur Behinderung. In diesem Film konzentriert sich der Blick immer wieder auf den Körperteil, der die Funktionen des fehlenden oder nicht biologisch korrekt funktionierenden Körperteils mit übernimmt, gegen das Gesicht des Menschen geschnitten. Er funktioniert, und zwar vorzüglich, der Mensch.

Die Bezeichnung "Pannwitz-Blick" leitet sich von dem Namen eines Chemikers und KZ-Selektierers ab; am Anfang des Films stehen die Worte Primo Levis, die diesen Menschen beschreiben. Der Faschismus und sein Umgang mit den Behinderten ist schon per Titel eines der Zentren des Films. In Deutschland ist dieser Blick auf die Vergangenheit unumgänglich. Peter Cohen argumentierte in seinem Film "Architektur des Untergangs" (fd 29 067), daß die Ideologie des Dritten Reiches die Schönheit, die Kunst sei; die Politik als Kunstschaffen, der Staat als Kunstwerk. Kunst ist Schönheit, alles Häßliche muß selektiert und eliminiert werden. Die Faschisten drehten Filme über die Reinigung der Rasse, die Filmemacher argumentieren immer wieder durch Stücke aus faschistischen Lehr - und Spielfilmen ("Ich klage an". Wolfgang Liebeneiner, 1943); da wird der Darwinismus zu Rate gezogen, die Natur eliminiert die Schwachen; da wird an die niedrigsten Instinkte appelliert, wenn man Behinderte in einer geschlossenen Anstalt, aufs Häßlichste ausgeleuchtet und fotografiert, zeigt und dazu anmerkt, daß es sich hierbei um Schwerverbrecher handelt.

Die Bilder der Behinderten gleichen auf fatale Weise denen der Juden aus "Der ewige Jude". In diese Ecke gehören auch die Physiognomie - und Bewegungsstudien aus dem 19. Jahrhundert, die symbolisch am Anfang der historischen Argumentation stehen. Einige zeigen Soldaten beim korrekten Exerzieren; einige stammen von Edward Muybridge, der als einer der Erfinder der Bewegungsfotografie gilt. Oder man zeigt das schöne und unbeschwerte Leben, das man als Behinderter in einem Heim führt, um die Leute zu beruhigen, wenn Verwandte, Freunde oder Bekannte abgeholt werden, schließlich wird es ihnen gut gehen. Interessant ist, daß hier, wie auch schon in "Die Architektur des Untergangs" keine Ausschnitte aus den Filmen von Leni Riefenstahl verwendet wurden, verkörpern sie doch formvollendet die Ideologie der Schönheit und Konformität.

Das Schicksal der Behinderten im Dritten Reich war der Tod, versteckt unter dem Deckmantel der Euthanasie, des menschenwürdigen Sterbens. In letzter Zeit ist das Wort wieder aufgetaucht, es wird über die Erlösung unheilbar Kranker von ihren Qualen gesprochen. Es gibt einen Film dazu, das Video über die letzten Minuten einer Frau, kurz bevor sie ein selbsternannter Erlöser von der Bürde des Lebens befreit. "Der Pannwitz-Blick" benutzt den Videofilm als Argumentationsgrundlage. Und da gibt es Menschen, die ernsthaft darüber philosophieren, ob man nicht auch behinderte Babys von den ungeahnten, imaginierten Qualen eines noch nicht gelebten Lebens befreien soll.

Simpel gesprochen: Ist es wieder soweit? Dafür hätte erst mal etwas zu Ende gehen müssen. Doch der Werbefilm mit Theresia Degener spricht dagegen, erzählt, wie die Gesellschaft nicht bereit ist, einem Menschen seine Individualität zu lassen; er ist Zwischenstück, vor ihn gehören diverse faschistische Propagandafilme, danach kommt das Video. Alle sprechen von der Anormalität dieser Menschen, Kranken. Der Videofilm geht sogar so weit, die Frau selbst von ihrer Überflüssigkeit sprechen zu lassen: Schaut man genau hin, hört man wirklich zu, so sieht man nicht nur kleine Schnitte in dem Video (die jedoch auch von den Freiburger stammen könnten), man sieht auch, daß die Frau ihren "Sterbehelfer" wie um Bestätigung zu erlangen anschaut, als ob sie sich das Gift mit den richtigen, vorgekauten Worten verdienen müßte. Brutal, aber auf das vielleicht menschlich Essentiellste verkürzt: alle diese Filme sprechen von der Konformität, vom Erlangen der Konformität, von der Nutzbarmachung bislang brachliegender Energien und Ressourcen, auch von der Beseitigung der Unnützen, die Energie und Arbeit kosten, aber nichts bringen.

Je mehr man über den Film nachdenkt, desto gigantischer wird sein Thema, desto tiefer dringt man in die Geschichte Deutschlands ein. Es ist nicht vorüber, es fängt wieder an, es sieht anders aus, und doch läuft es auf etwas Vergleichbares hinaus. Ein kleiner Film, der riesengroß ist, weil er klar ist in seiner Argumentation, weil ihn jeder verstehen kann - und der vor allen Dingen ergreift, hat er doch starke Menschen in seinem Zentrum. Der Film lebt durch Theresia Degener und die anderen Behinderten, auf deren Welt er sich einläßt, einfach so, so wie es eigentlich sein sollte. Film als Utopie, Behinderung als Perspektive. Immer wieder findet sich in der Literatur das Jude-Sein als eine Metapher für Anderssein verwendet. Nonkonforme sind Juden; Behinderte sind biologische Juden; politisch anders Denkende sind ideologisch Behinderte (die man notfalls umerziehen kann). Das zeigt vielleicht, wie weitreichend der Film ist, wofür er eintritt: für die Freiheit.

Zwei Dinge zeigt der Film am Ende: einmal den Prothesen-Werbefilm, zum anderen, wie sich ein Spastiker die Schuhe anzieht. Es wird schon am Anfang erwähnt, daß er sich seine Schuhe nicht mit einer Schleife zubinden kann; er hat einen Trick. Am Ende: Warum Schuhschleifen? (Das Plakat zeigt die Beine eines Spastikers, der vorwärts geht.)
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