Karriere Girls

- | Großbritannien 1997 | 87 Minuten

Regie: Mike Leigh

Zwei Engländerinnen Anfang 30 sehen sich nach sechs Jahren in London wieder. Ihre Begegnung führt zur intensiven Rückbesinnung auf ihre Freundschaft Mitte der 80er Jahre, als sie verunsichert und verstört nach einem Standpunkt in ihrem Leben suchten, wird aber auch zur "Nagelprobe" für ihre gegenwärtige bürgerliche Existenz, in der sie noch immer keinen wirklichen Halt gefunden haben. Ein thematisch außergewöhnlicher Film über die schwierige Suche nach einer Identität zwischen alternativer Subkultur und britischer Bürgerlichkeit. Vornehmlich inszeniert als Kammerspiel mit zwei hervorragenden Darstellerinnen, das vor allem durch seine Aufrichtigkeit manche überkonstruierte Drehbuchwendung ausgleicht. (O.m.d.U.; Kinotipp der katholischen Filmkritik.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
CAREER GIRLS
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Thin Man Films (für Channel Four)/Ciby Sales
Regie
Mike Leigh
Buch
Mike Leigh
Kamera
Dick Pope
Musik
Marianne Jean-Baptiste · Tony Remy · The Cure
Schnitt
Robin Sales
Darsteller
Katrin Cartlidge (Hannah) · Lynda Steadman (Annie) · Kate Byers (Claire) · Mark Benton (Ricky) · Andy Serkis (Mr. Evans)
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
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Diskussion
In einem Zugabteil sitzt eine im bürgerlichen Sinne ganz "normal" und unauffällig aussehende Frau Anfang 30. Sie ist auf dem Weg nach London, jener Metropole, die sie vor zehn Jahren verließ und in der sie studierte. Die Zugreise wird sie zurück in ihre Vergangenheit führen, doch das, was sich da schrittweise in Rückblenden vor dem Zuschauer darlegt, ist irritierend: Das entspannte Gesicht der Frau im Zug, über das gelegentlich leicht verträumt ein Lächeln huscht, wenn sie sich an etwas erinnert - ist es wirklich dasselbe Gesicht, das der Rückblick in die Mitte der 80er Jahre zeigt? Damals war Annie eine äußerlich nachlässige, zudem extrem verunsicherte Post-Punkerin, gezeichnet von einer eine Gesichtshälfte entstellenden neurodermitischen Flechte und einem fast schon psychothischen Verhalten. Sie zog in ein heruntergekommenes, schmuddeliges Zimmer in einer Frauen-WG, einer Zweckgemeinschaft, die zugleich Sammelbecken für alle Verletztheiten und Aggressionen der dort lebenden Frauen war, die sich an gescheiterten Beziehungen ebenso wie an ihren defekten Elternhäusern "abarbeiteten" und sich bei Joint und Alkohol über ihr Leben klarwerden wollten. Unter diesen Umständen begegneten sich Annie und Hannah und wurden zu so etwas wie Freundinnen, die den chaotischen Alltag am Rande des sozialen Systems teilten. Und nun, bei der Rückkehr nach London, wird Annie von Hannah am Bahnhof abgeholt, und auch aus der einst aggressiven und zynischen Einzelgängerin Hannah ist eine äußerlich angepaßte Durchschnittsbürgerin mit festem Job und schickem Appartment geworden. Vorsichtig und unsicher reagieren die beiden auf ihr Wiedersehen, eine Begegnung, die sie zu vielen Eckdaten ihres Lebens führen wird - als "Nagelprobe" ihrer damaligen wie auch heutigen Existenz.

Bereits Mike Leighs Debüt "Freudlose Augenblicke" (1971) war ein Film über die Einsamkeit der Menschen, ihr methodisches Aneinandervorbeireden, ihre Unfähigkeit zu menschlichem Kontakt. Rückschauend bezeichnete Leigh diesen bedrückenden Film dennoch als einen "Toast auf die alternative Subkultur", was nur scheinbar ein Widerspruch ist, denn seine Haßliebe gegenüber sozialem Außenseitertum ist in all seinen Filmen offensichtlich. Bis hin zu dem verstörend aggressiven Querdenker Brian in "Nackt" (fd 30 631), der alle verbalen Attacken aufwendet, um zu verletzen (und zugleich um nicht kommunizieren zu müssen!), attackiert Leigh dabei immer wieder eine materialistische Welt, in der ethische Werte verkümmern. Der bittere Zynismus und der Spott weichen indes in den jüngeren Filmen allmählich einem sanfteren Blick. Und spätestens seit "Lügen und Geheimnisse" (fd 32 120) will Leigh sich nicht mehr hinter spitzzüngig formulierten Zynismen verstecken, bemüht sich um versöhnlichere Töne. Dafür eine adäquate (Drehbuch-)Form zu finden, gelingt ihm in "Karriere Girls" bei weitem nicht immer und führt zu einem sehr artifiziellen Konstrukt, das auf allzu viele Zufälle innerhalb der Handlung baut, um als Geschichte glaubwürdig zu sein. Und dennoch fesselt der Film - nicht zuletzt wegen seiner rigoros ehrlichen Haltung. Wie so oft fällt auch hier Leighs Entschlossenheit auf, sofort eine emotionale Distanz zu den Protagonisten aufzubauen, zumindest zu den jungen Persönlichkeiten der "Karriere Girls"; daß sie aber zehn Jahre später wie "du und ich" aussehen, gleichsam als aus einem Kokon geschlüpfte Metamorphosen "unangenehmerer" Zeitgenossen, ist eine geradezu kathartische Erkenntnis. Die "verlorenen Seelen" von einst sind nicht kaputtgegangen im Sumpf einer deprimierenden britischen Alltagswelt, im Gegenteil: sie haben sogar so etwas wie Karriere gemacht. Jetzt halten sie inne, blicken zurück und registrieren die unverheilten Wunden, ebenso wie sie ihre Verunsicherung angesichts ihrer jetzigen Lebensumstände innerhalb der "normalen" bürgerlichen Großstadtwelt feststellen. Das neue Ambiente ist ihnen noch längst nicht heimisch geworden, sie haben (noch) keinen wirklichen Halt, keine Ruhe, keine Identität finden können.

Intuitiv wollen Hannah und Annie die Wunden nicht länger vertuschen, weil sie ahnen, daß sie sonst daran zugrundegehen. "Wir alle leiden. Warum können wir unseren Schmerz nicht teilen?", hatte einer der Protagonisten in "Lügen und Geheimnisse" (fd 32 120) vorgeschlagen, und dies wird jetzt noch deutlicher zur zentralen "Arbeitsthese", um die Enttäuschungen und Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit auszugleichen. Formal ist "Karriere Girls" vergleichsweise schlicht und ohne die herausragenden inszenatorischen Finessen von "Nackt" oder "Lügen und Geheimnisse" - dies aber scheint durchaus Methode zu haben. Leigh inszenierte ein konsequent reduziertes Kammerspiel mit einigen wenigen Schausplätzen, an denen ebenso wenige weitere Personen auf- und abtreten, als Stichwortlieferanten, die den Dialog und den Besinnungsprozeß der beiden Frauen vorantreiben. Ansonsten konzentriert sich der Film ganz und gar auf das eindrucksvolle, von hypernervöser Zerbrechlichkeit geprägte Spiel der beiden Frauen, die allmählich zu ihrer - nur im englischen Original authentischen - Sprache, zu ihren Empfindungen, ja zu Momenten eines befreienden Ausgelassenseins finden. Eines aber ist am Ende gewiß: Sie haben Glück gehabt, andere liegen zerstört am Wegesrand, Opfer nicht zuletzt einer rabiaten Sozialpolitik. Und ob ihre Freundschaft auch in Zukunft hält, das weiß man vielleicht erst nach einem weiteren spannenden Film von Mike Leigh.
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