Mutter und Sohn (1997)

- | Russland/Deutschland 1997 | 82 Minuten

Regie: Alexander Sokurow

Der russische Filmemacher Alexander Sokurow widmet sich einmal mehr seinem zentralen Thema "Sterben" und nähert sich dem poetischen Ideal der klassischen Elegie ein weiteres Stück an. Außer dem Vorhandensein zweier Menschen und dem Umstand des Todes läßt sich die Handlung nicht konkret festmachen. Sepiafarbene Tableaus in unwirklich verkanteten Perspektiven, stark verlangsamte, zum Stillstand neigende Kamera- und Figurenbewegungen sowie eine außergewöhnlich subtil abgemischte Dolby-Tonspur tragen dazu bei, daß der Film nicht nur thematisch zu einem rigoros herausfordernden Kunstwerk wird, das sich aktuellen Trends radikal verweigert. Seine Gültigkeit wird sich weit darüber hinaus erweisen. - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MAT I SYN
Produktionsland
Russland/Deutschland
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Severny Fond/Zero Film/Ö-Film/"documenta X"
Regie
Alexander Sokurow
Buch
Juri Arabow
Kamera
Alexej Fjodorow
Musik
Michail Iwanowitsch Glinka · Otmar Nussio · Giuseppe Verdi
Schnitt
Leda Semjonowa
Darsteller
Gudrun Geyer (Mutter) · Alexej Fjodorow (Sohn)
Länge
82 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.

Diskussion
Wie Alexander Sokurows andere filmische Arbeiten auch, gehört "Mutter und Sohn" ganz unbedingt zu den kinematografischen Ausnahmeerscheinungen unserer Zeit. Einerseits beschreibt der Filmtitel seinen Gegenstand inhaltlich erschöpfend, benennt auch gleich die beiden einzigen Personen seiner "Handlung". Andererseits entzieht sich der Film jedem Versuch einer Beschreibung im herkömmlichen Sinne. Was geschieht eigentlich in diesen knapp 90 Minuten Filmzeit? Ein junger Mann (der Sohn) hebt eine todkranke Frau (die Mutter) von ihrem kargen Lager auf, trägt sie hinaus auf eine Bank unter Bäumen, liest ihr einige Zeilen vor. Die Mutter krümmt sich vor Schmerz, der Sohn bringt sie ins Haus, flieht vor den Qualen des geliebten Menschen zurück ins Freie, kehrt um und findet die Mutter tot. Der Sohn trauert. Das ist eigentlich alles. In welchem Maße der russische Regisseur diese vage Handlung zum Anlaß nimmt für eine noch schärfere Akzentuierung seiner Filmsprache, nötigt Respekt ab. Das Ergebnis ist durchaus innovativ zu nennen. In Catherine Davids "documenta X" nimmt "Mutter und Sohn" zu Recht einen Platz als Zeugnis ästhetischer Grenzerweiterung ein.

Im griechischen Altertum war die Elegie ein Toten- bzw. Klagelied ohne konkreten Inhalt. Der Begriff der Elegie taucht bereits in einer ganzen Reihe von Titeln in Sokurows Werk auf: so in "Moskauer Elegie" (1987), "Sowjetische Elegie" (1989), "Einfache Elegie" (1990), "Elegie aus Rußland" (1993). Mit "Mutter und Sohn" nähert er sich nun seinem poetischen Ideal ein weiteres Stück an. Gab es in "Verborgene Seiten" (1993, fd 31 160) mit Zitaten klassischer russischer Literatur noch skizzierte Linien eines Handlungsablaufes, reduziert sich nun das dramatische Material noch einmal ganz erheblich. Außer dem Vorhandensein zweier Menschen und dem Umstand des Todes läßt sich nichts Konkretes festmachen. Da es im eigentlichen Sinne keine Handlung gibt, bedarf es auch keiner Exposition. Ort und Zeit werden mit der nicht vorhandenen Anlage einer dramatischen Entwicklung hinfällig. Allerdings vollziehen sich die rudimentären Geschehensmomente vor dem gerade noch sichtbaren Hintergrund einer Vergangenheit: ein verfallendes Haus, Fotoalben, Bücher, nicht zuletzt die Muttersohn-Konstellation als genealogische Spur zurück in die Geschichte. Indem die Mutter stirbt, der Sohn mithin als "letzter Mensch" zurückbleibt, scheint auch die Geschichte zu sterben. Dieser deutlich postmoderne, dabei unübersehbar pessimistische Gedanke unterscheidet Sokurow auch von seinem übermächtigen Vorbild Andrej Tarkowskij. Bei aller Skepsis ob des Zeitgeistes postulierte Tarkowskij doch stets ewige kulturelle Werte, glaubte an die unverwüstliche Kraft von Ikonen, Büchern, Musik, erwog damit noch die Möglichkeit einer Umkehr. Vor allem: In jedem seiner nur sieben Spielfilme gab es stets ein Kind als ewige Inkarnation des Hoffnungsprinzips. Anders bei Sokurow: In seinen Visionen scheinen die zivilisatorischen Flurschäden endgültig irreversibel geworden zu sein. Und - es gibt kein einziges Kind mehr.

Formal verfeinert Sokurow seine Sprache weiter: sepiafarbene Tableaus in unwirklich verkanteten Perspektiven, Fettblenden, stark verlangsamte, zum Stillstand tendierende Kamera- und Figurenbewegungen, dazu eine unglaublich subtil abgemischte Dolby-Tonspur. Selten sind beispielsweise Momente von Stille so wirksam als kompositorisches Element im Film eingesetzt worden. "Mutter und Sohn" steht quer zu allen wohlfeilen aktuellen Trends der Filmwirtschaft. Seine Gültigkeit weit darüber hinaus wird sich zweifelsohne erweisen.
Kommentar verfassen

Kommentieren