Moebius (1996)

Science-Fiction | Argentinien 1996 | 88 Minuten

Regie: Gustavo Mosquera R.

Ein junger Mathematiker soll das rätselhafte Verschwinden einer U-Bahn klären, die als Geisterzug durch das Tunnelgewirr von Buenos Aires irrlichtert. Als seine Recherchen zu dem Ergebnis führen, daß der Zug in eine Unendlichkeitsschleife geraten und in eine andere Dimension gewechselt sei, findet er kein Gehör. Vielschichtige Filmparabel, die für ihren fantastischen Stoff eine hypnotisierende Bildersprache findet und geschickt das Gleichgewicht zwischen existentieller Reflexion und politischen Anspielungen auf die Zeit der Militärdiktatur wahrt. Der von Filmhochschülern geschaffene Film überrascht durch visuellen Einfallsreichtum und inszenatorischen Mut. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
MOEBIUS
Produktionsland
Argentinien
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Universidad del Cine
Regie
Gustavo Mosquera R.
Buch
Arturo Onativia · Natalia Urruty · Gabriel Lifschitz · Pedro Cristiani · Maria Angeles Mira
Kamera
Abel Penalba · Federico Rivares
Musik
Mariano Núñez West
Schnitt
Pablo Georgelli · Alejandro Brodersohn
Darsteller
Guillermo Angelelli (David Pratt) · Anabella Levy (April) · Roberto Carnaghi · Jorge Petraglia
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Science-Fiction
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Diskussion
In Science-Fiction-Romanen und Fantasy-Comics hat es schon Ian ge die Leser verwirrt: das ominöse "Moebius"-Band, eine Schleife, deren Enden so übers Kreuz verbunden sind, daß man in einer endlosen Bewegung von der Ober- zur Unterseite gelangen kann, ohne den Rand zu überschreiten. Wer die Probe aufs Exempel machen will und das nach dem Leipziger Mathematiker und Astronomen August Ferdinand Moebius (1790 - 1868) benannte Phänomen mit einem Papierstreifen nachstellt, ist verblüfft - und beginnt zu verstehen, warum sich das anschauliche Experiment für populärwissenschaftliche Unendlichkeitsspekulationen eignet. Auch die Studenten der argentinischen "Universidad del Cine", die unter Leitung des Regisseurs Gustavo Mosquera R. drei Jahre Ian g an ihrem ersten abendfüllenden Spielfilm arbeiteten (siehe fd 9/97, Seite 9), beziehen sich in diesem Sinne spielerisch auf das Theorem einer einseitigen Fläche. In ihrem überraschend souveränen Gemeinschaftswerk dient es als Aufhänger für eine vielschichtige Filmparabel um eine verschwundene U-Bahn, die als eine Art Geisterzug durch das Tunnelgewirr von Buenos Aires irrlichtert. Der junge Mathematiker David Pratt soll das Rätsel aufklären, das tagelang große Teile des Nahverkehrs lahmlegt. Die Sicherheitssysteme lokalisieren den mysteriösen Zug Nr. 86 manchmal fast zeitgleich an verschiedenen Orten, doch die Suchmannschaften bekommen ihn nie zu Gesicht. Nur noch Vibrationen sind zu spüren, von fern hallen Donnergeräusche durchs düstere Labyrinth. Auf der Suche nach dem verschwundenen Konstrukteur des letzten Bauabschnitts, bei dem die sternförmigen Linien aus dem Zentrum durch einen äußeren Ring miteinander verbunden wurden, stößt Pratt auf ein seltsames Mädchen namens April, das sich ihm anschließt. Der Erklärung, die für Pratt schließlich immer stärkere Plausibilität gewinnt, will niemand Glauben schenken: daß der Triebwagen in jene Moebius- Schleife geraten sei und sich in einer anderen Raum- und Zeitdimension bewege.

Bereits im Prolog, der dem Film vorangestellt ist, klingt der existentielle Ton an, um den es inhaltlich geht. In Zeitlupe sieht man Füße und Beine, die einer U-Bahn entsteigen und dem Ausgang zueilen, während die Off-Stimme des Mathematikers über das unterirdische Verkehrssystem als Lebensmetapher sinniert: Ein undurchschaubares Netz aus engen Tunneln, Stollen und Knotenpunkten, durch das sich unablässig Massen von Menschen drängen, die - sich und einander fremd - sich nur selten bewußt sind, wie sich mit jedem Umsteigen ihr Schicksal verändert. "Die wachen nicht auf, bevor sie nicht merken, daß sie schlafen", heißt es am Ende, wenn Pratt selbst zum Fahrgast des Zuges Nr. 86 geworden ist und sich über die lethargische Passivität der Passagiere wundert, für die es keine herkömmliche, linear fortschreitende Zeit mehr gibt. Nur zweimal gewährt der Film seiner bleichen Hauptfigur den Aufstieg ins Tageslicht, der einmal im Nirgendwo einer Autobahnbaustelle endet, das andere Mal auf einem nächtlichen Rummelplatz, auf dem Pratt den Kuß seiner geheimnisvollen Begleiterin ignoriert, weil er zu sehr in seine Recherchen vertieft ist. Erst als er sich plötzlich selbst dem Phantomzug gegenüber sieht und sich in letzter Sekunde in Sicherheit bringen kann, öffnen sich ihm die Augen. Sein ehemaliger Professor, der vermißte U-Bahn-Planer, sitzt im Führerhaus und räsoniert über die Unfähigkeit der Menschen, ihren Sinnen zu trauen. Alles sei möglich, wenn man das Unmögliche nicht ausschließe, wenn man Raum und Zeit ihre Relativität zugestehen würde, orakelt der Alte, während das Gefährt mit immer rasenderer Geschwindigkeit dahinjagt, bis es schließlich in weißem Licht verschwunden ist. In der argentinischen Literatur, den Phantasmagorien eines Jorge Luis Borges oder Julio Cortazars bizarren Rätseln, aber auch in Franz Kafkas ausweglosen Gleichnissen ist diese Bewegung vorgezeichnet, für die der Film eine hypnotisierende Bildersprache findet. Unablässig tappt Pratt durchs Dunkel, irrt mit Stoppuhr und Notizheft durch den gespenstischen, von kaltem, fahlem Blau erleuchteten Irrgarten auf der Suche nach einer Erklärung, die sich jeder normalen Handlungslogik entzieht.

Das minimale Budget und die einfache Ausrüstung, die den Filmstudenten zur Verfügung standen, haben dabei zu einer Reihe verblüffender stilistischer Lösungen beigetragen, die den Kollektivfilm in die Nähe eines kleinen Kunstwerks rücken. So ruft der sprunghafte optische Wechsel zwischen Vorder- und Hintergrund unweigerlich die Erinnerungen an die Quantenphysik wach, zwei miteinander verbundene Zustände nicht gleichzeitig beobachten zu können. Die fehlende Beweglichkeit der Kamera wird durch ein ausgeklügeltes System der Einstellungen kompensiert, die Bilder von großer Intensität erzeugen. Und die begrenzten Möglichkeiten der Ausstattung befördern ebenso die karge, konzentrierte Atmosphäre wie die Erzählhaltung, die mit dem Gestus der Distanz Raum für Beobachtungen und Gedanken der Zuschauer schafft sowie einer transzendenten Reflexion die Tore öffnet. Was an dieser Reise ins Unbewußte außer ihrer filmischen Versiertheit angenehm berührt, ist ihre Bodenständigkeit, die jeden naheliegenden Überstieg ins rein Existentialistische erschwert. Nur einmal taucht am Rande der Name des "Plaza del Mayo" auf und doch ist von Anfang an klar, daß sich hinter dem Motiv des verschwundenen Zuges auch das Schicksal derer verbirgt, die während der Militärdiktatur gefoltert und ermordet wurden. Die sorgfältige Auswahl der Nebendarsteller trägt das ihrige dazu bei, trotz der gesuchten Stilisierung Momente der sozialen Realität Argentiniens zu integrieren. Selbst das Fantasy-Gespinst um das Moebius-Band dient zugleich der politischen "Memoria". Im Innern der unendlichen Schleife ist die Zeit nicht nur suspendiert, sondern im wörtlichen Sinne auch aufgehoben: Die Vergangenheit ist als räumliche Gegenwart präsent. Auf dem Bahnsteig sieht Pratt das Mädchen wieder dort sitzen, wo es sich einige Tage zuvor niedergelassen hatte. In der Beschränkung, solche Bezüge nur anzudeuten und sich auch nicht in die Untiefen physikalischer Theorien zu verlieren, liegt die Kunst und das Geheimnis dieses wunderbaren Hochschulfilms, dessen magische Blautöne Ian ge in Erinnerung bleiben.
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