Drama | Armenien/Kanada/Deutschland 1992/93 | 72 Minuten

Regie: Atom Egoyan

Für eine Kalenderblatt-Serie reist ein kanadischer Fotograf in die armenische Heimat, wo er seine Frau an den einheimischen Fremdenführer verliert. An Hand des Kalenders und einiger Videoaufnahmen reflektiert er im folgenden Jahr über die eigene Fremdheit in Armenien und den Entfremdungsprozeß von seiner Frau. Komplex verschachtelter, dank einer ausgezeichneten Hauptdarstellerin aber sehr lebendiger Film voller Ironie und Melancholie. Zugleich eine Studie über die Einflüsse moderner Medien auf die zwischenmenschliche Kommunikation. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
CALENDAR
Produktionsland
Armenien/Kanada/Deutschland
Produktionsjahr
1992/93
Produktionsfirma
Ego Film Arts/ZDF
Regie
Atom Egoyan
Buch
Atom Egoyan
Kamera
Norayr Kasper
Schnitt
Atom Egoyan
Darsteller
Arsinée Khanjian (Dolmetscherin) · Ashot Adamian (Reiseführer) · Atom Egoyan (Fotograf)
Länge
72 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Ein kanadischer Fotograf nimmt in Armenien Bilder von 12 frühchristlichen Kirchen auf, Motive für den Wandkalender einer Wohltätigkeitsorganisation. Der Fotograf ist selbst armenischer Abstammung, hat aber den Kontakt zu seiner "Heimat"-Kultur verloren. Anders seine Frau, die als Dolmetscherin mitreist und den schwierigen Kontakt zum einheimischen Fahrer und Fremdenführer vermittelt. Im Verlauf der Reise entfremdet sich das Paar immer stärker, die Frau fühlt sich zum Reiseführer hingezogen.

Das folgende Jahr. In seiner Wohnung empfängt der Fotograf Frauen der verschiedensten Nationalitäten. Nach dem Abendessen vollzieht sich das stets gleiche Ritual: Während der Gastgeber Wein nachschenkt, telefonieren die Frauen - offensichtlich mit geliebten Männern - in ihren jeweiligen Sprachen. Die zwölf Bilder des Kalenders, der nahe am Telefon hängt, bilden den Brückenschlag zurück nach Armenien, wo die Frau des Fotografen geblieben ist. Wie jedes Bild eine Station der wachsenden Entfremdung in Armenien symbolisiert, bedeutet jeder Monat in Kanada einen Schritt aus Apathie und Trennungsschmerz hinaus in eine neue Normalität. Zwischen der drückenden Sprachlosigkeit des Januar-Rendezvous und der ungezwungenen Selbstironie der letzten Begegnung (mit einer Kanadierin armenischer Abstammung, die sich "als Ägypterin fühlt" - eine Anspielung auf Egoyans Geburtsort Kairo) liegen bei aller äußerlichen Entsprechung Welten. Und während der Fotograf zunächst alle telefonischen Nachrichten seiner Frau ignoriert, nutzt er später die Telefongespräche seiner Gäste, um ihr Briefe zu schreiben.

Noch offensichtlicher als Egoyans frühere Filme erweckt "Calendar" zunächst den Eindruck einer ausgeklügelten Versuchsanordnung. Einmal mehr geht es um "Heimat" und Fremdheit, um verkrüppelte Beziehungen und den Einfluß der Medien auf die private Kommunikation. Armenien zeigt sich in "Calender" ausschließlich aus der Perspektive des Fotografen. Aus der Perspektive des Fremden also, der mit aller Konsequenz an seiner Fremdheit festhält. Tatsächlich beschränkt sich die (Film-)Kamera auf die starren "idealen" Perspektiven des jeweiligen Fotos; mit der Wahl des Kamerastandortes indes ist die Annäherung des Fotografen an sein Objekt abgeschlossen. So wenig er den Drang verspürt, die "gesammelten" Kirchen zu berühren oder von innen zu sehen, so gleichgültig er den kulturhistorischen Ausführungen des Fremdenführers lauscht, so wenig unternimmt er auch den Versuch, dessen Annäherung an seine Frau zu stören, die sich immerhin vor dem "Auge" des Objektivs abspielt. Die Kamera als schützende "Waffe" gegen die Außenwelt und die Unmittelbarkeit der Gefühle - das Motiv spielt schon in Egoyans "Familienbilder" (fd 28 868) und "Traumrollen" (fd 28 895) eine entscheidende Rolle. Hier nun ist es zugespitzt auf die beinahe masochistische Passivität des Fotografen. Eine Ahnung seiner emotionalen Regungen vermitteln allenfalls die Videoaufnahmen, mit deren Hilfe sich der Fotograf später erinnert. Sie zeigen beinahe ausschließlich seine Frau, folgen ihren Bewegungen oder streifen langsam an ihrem Körper entlang, verraten etwas von der hinter Teilnahmslosigkeit verborgenen Zärtlichkeit -oder schauen bewußt weg, wo die Bilder zu schmerzhaft werden könnten. Ein Flirt aus zweiter Hand - zu wenig.

Sieht man in den Armenien-Sequenzen ausschließlich die Frau und den Konkurrenten, so erlebt man den fehlenden Part des Beziehungsdreiecks in Kanada - über Raum und Zeit hinweg verbunden durch Fotos und Videobilder. Der von Egoyan selbst gespielte Fotograf sucht sein Leben durch Rituale in den Griff zu bekommen. Hier nun beginnt der Regisseur ein ironisches Spiel mit den Erwartungen des Publikums und der Mehrdeutigkeit seiner Bilder. Der multinationale Reigen seiner Besucherinnen gibt sich nach und nach als künstliche Inszenierung zu erkennen. Eine Freundin schlägt telefonisch vor, eine mehrsprachige Bekannte in verschiedenen Kostümen gleich zweimal einzuladen. Fotograf und Regisseur verschmelzen zu einer Person, die Grenze zwischen Fiktion und Realität verschwimmt. Indem Egoyan sich so selbst zum Teil der Inszenierung macht, fordert er zum Mißtrauen auch gegen die eigenen Bilder auf.

Bei aller formalen Kunstfertigkeit und Strenge ist "Calendar" auch ein sehr emotionaler, melancholischer Film. Trauer über die Unfähigkeit zur Kommunikation und zum Überschreiten selbstgezogener Grenzen zieht sich als roter Faden durch die Handlung. Versagt der Fotograf bei der Begegnung mit den eigenen kulturellen Wurzeln völlig, so scheint sich am Ende immerhin eine Besinnung auf das "gemeinsame Erbe" der gescheiterten Beziehung anzudeuten - wenn auch spät und abermals auf indirekte, vermittelte Weise. Das für einen Egoyan-Film teilweise ungewohnte Maß an Spontaneität verdankt sich dem hinreißenden Spiel Arsinée Khanjians, deren entwaffnende Natürlichkeit Egoyans kalkulierte Kalenderblätter immer wieder aussehen lassen wie das "wahre Leben".
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