Sue - Eine Frau in New York

Drama | USA 1997 | 91 Minuten

Regie: Amos Kollek

Eine attraktive, in ihrem Innern bis zur psychischen Erkrankung verzweifelte und vereinsamte Frau in New York fällt durch alle Maschen des sozialen Netzes: Sie kann weder ihre Miete bezahlen noch die Menschen, die sie kennenlernt, als Freunde, (Liebes-)Partner und Helfende annehmen und steuert mit unabwendbarer Konsequenz auf ihr Ende zu. Eine beklemmende Zerfallsstudie, die vor allem durch die "Normalität" des von der Umwelt unbemerkten Untergangs verstört und zugleich herausfordert. Weniger ein bis ins Detail schlüssiges "Sozialdrama" als eine zutiefst beunruhigende urbane Tragödie, getragen von einer außergewöhnlichen Hauptdarstellerin. (Preis der Ökumenischen Jury in Berlin 1998; O.m.d.U.) - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
SUE
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Amko Productions
Regie
Amos Kollek
Buch
Amos Kollek
Kamera
Ed Talavera
Musik
Chico Freeman
Schnitt
Elisabeth Gazzara
Darsteller
Anna Thomson (Sue) · Matthew Powers (Ben) · Tahnee Welch (Lola) · Tracee Ellis Ross (Linda) · Robert Kya-Hill (Willie)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Das Leben der schönen Sue ist bereits gelebt, bevor man in der ersten Szene des Films ihren Rücken sieht. Da muß sie sich von ihrem väterlich gerierenden Vermieter eine leicht herablassende Standpauke wegen Mietrückstandes gefallen lassen, worauf sie sanft, höflich, ja fast unterwürfig reagiert. Auch die Träume der gerade mal Mittdreißigerin in New York sind längst ausgeträumt, viele Enttäuschungen und Verletzungen, über die man nichts Konkreteres erfährt, haben auf ihrer Seele tiefe Wunden hinterlassen und klingen immer nur von Ferne an, wie ein längst nicht mehr beeinflußbares Echo. Sue ist eine schöne Frau; kein profilloses Starlet, sondern eine unverwechselbare Persönlichkeit, in deren Gesicht sich die Wechselfälle ihrer Geschichte unauslöschbar eingeschrieben haben. Sie kleidet sich schick, betont weiblich-elegant, wobei sie sich über die Kleidung eine Art Panzer gegenüber der Realität verschafft – eine Realität, die geprägt ist vom unaufhaltsamen Niedergang. Sue findet keinen Job, so sehr sie sich auch in Vorstellungsgesprächen um ein überzeugendes Profil bemüht. Wenn sie, hochsensibel, die ablehnende Haltung ihres Gegenüber spürt, scheint sie immer müder zu werden, gibt die jeweils angenommene Rolle auf und resigniert leise; nur gelegentlich, meist am Telefon, braust sie einmal etwas heftiger auf. Zwischendurch scheint sich einmal alles zum Guten zu wenden: Sue findet in dem Reiseberichtautor Ben einen zärtlichen Geliebten, und obendrein sogar einen Job. Doch ebenso unverhofft wird ihr wieder gekündigt; und als Ben einen Auftrag in Indien annimmt, verschließt sie sich endgültig. Mehr denn je leidet sie an ihrer Vereinsamung, streunt durch die Parks, Bistros und Kneipen von New York, spricht Menschen an, um dann leicht hysterisch drauflos zu plappern, und ist doch nicht (mehr) fähig, die Menschen, die sie kennenlernt, als Freunde, (Liebes-)Partner und Helfende anzunehmen. „Ich bin ein gesprächiger Typ: Ich kommuniziere über Sex“, sagt sie irgendwann einmal, zwischen vielen Zigaretten und immer mehr Alkohol, bitter und erheitert zugleich. Diese exzessive, nicht auf konkrete Personen gerichtete Sexualität ist ihr letzter Aufschrei, bevor sie für immer verstummt. Am Ende hat sie ihre Wohnung verloren, sitzt einsam, frierend, hungernd auf einer Parkbank. Ihr Kopf sinkt zur Seite, und der Schlaf, in den sie sinkt, ist für die Ewigkeit.

Unwillkürlich denkt man an Truman Capotes Erzählung „Frühstück bei Tiffany“, jene fatalistische, beklemmend präzis gezeichnete Studie der jungen Holly in New York, die nicht weiß, wem sie gehört und was einem überhaupt gehört. Capote glaubte nicht daran, daß sich ein Mensch von heute auf morgen ändern kann, glaubte aber an das unzerstörbar Menschliche im Menschen, wovon in Blake Edwards’ pittoresker Verfilmung (fd 10 820) nur noch eine kunstgewerbliche Patina übrigblieb. Die Holly im Film (gespielt von Audrey Hepburn) und Amos Kolleks Sue haben denn auch nur den Hang zur mondänen Kleidung gemein, ansonsten ist Sue deutlich eine Seelenverwandte der literarischen Figur, freilich in ihrem finalen Daseinsstadium, das geprägt ist von der fatalen Erkenntnis, daß sich nichts mehr bewegen läßt und nichts mehr verändert. Man begreift dies als Zuschauer nie vollends, möchte immer wieder Widerstand anmelden gegen die Unaufhaltsamkeit von Sues Schicksal, möchte vor allem intervenieren gegen ihre Unfähigkeit, Hilfe anzunehmen. Kollek zeichnet New York bei weitem nicht als menschenfressenden Moloch, sondern zeigt immer wieder Menschen, die bereit sind, auf Sue zuzugehen. Doch deren Wunden sind offensichtlich unheilbar, und die Großstadt legt gnadenlos offen, daß es immer wieder solche Sues geben wird, die auf diese oder eine andere Weise zugrunde gehen.

Manchmal mag einem Kolleks „Zerfallsstudie“ zu plakativ und vereinfachend erscheinen, vielleicht auch zu wenig subtil; in der Tat ist „Sue“ inszenatorisch mit den typischen Schwächen einer gering budgetierten Independent-Produktion behaftet, bei der zwischen erkennbarer Improvisation und bemühter Inszenierung manche Lücke klafft. Doch das ändert unterm Strich nichts an der Beklemmung, die der Film auslöst, und die wohl gerade daher rührt, daß Kollek auf jeden Anflug von Melodramatik verzichtet. Die „Normalität“ des von der Umwelt unbemerkten Untergangs eines verzweifelten, psychisch kranken Menschen verstört und wirkt lange über das Ende des Films hinaus. Eine an Intensität kaum noch zu überbietende Glanzleistung gelingt dabei der Hauptdarstellerin Anna Thompson, die sich eigentlich nie um ein wirklich realistisches Bild „ihrer“ Sue bemüht: Hin- und hergerissen zwischen Charme und Hysterie, tiefer Verzweiflung und dem Ringen um Respekt und Würde, kann man sich nie vorstellen, daß diese Sue einen Ausweg aus ihrer Misere im Gang zum Sozialamt suchen würde. Vielmehr verleiht ihr Anna Thompson eine fast mythische Größe im Zentrum einer post-antiken Großstadt-Tragödie: Sues Konflikt mit der (sittlichen) Weltordnung bleibt tragisch ungelöst, ihr Tod ist Ausdruck ihres Scheiterns vor dem Ausweglosen. Vielleicht ist dies ein Schlüssel zum Verstehen dieser unfaßbaren Sue: Um in dieser (urbanen) Welt (über-)leben zu können, müßte sie das einschränken, was ihr Dasein begründet – die Tiefe und Beweglichkeit ihrer Empfindungen.
Kommentar verfassen

Kommentieren