Girls' Night - Jetzt oder nie

Drama | Großbritannien 1998 | 103 Minuten

Regie: Nick Hurran

Eine nordenglische Arbeiterin knackt beim "Bingo" den Jackpot. Kurz darauf erkrankt sie an Krebs. Die wirkungslos bleibende Strahlenbehandlung bricht sie heimlich ab, um in Würde zu sterben. Ihre beste Freundin will sich damit nicht abfinden und überredet sie, sich ihren Lebenstraum zu erfüllen und nach Las Vegas zu reisen. Dank eines hervorragenden Drehbuchs und überzeugender Hauptdarstellerinnen findet der außergewöhnliche Film souverän die Balance zwischen Unterhaltung und tiefen Gefühlen. Somit macht er eine existentielle Auseinandersetzung mit dem Thema möglich. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
GIRLS' NIGHT
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Granada Film
Regie
Nick Hurran
Buch
Kay Mellor
Kamera
David Odd
Musik
Edward Shearmur
Schnitt
John Richards
Darsteller
Brenda Blethyn (Dawn) · Julie Walters (Jackie) · Kris Kristofferson (Cody) · Sue Cleaver (Rita) · Meera Syal (Carmen)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Es ist wohl ein Zufall, daß das Kinodebüt des 38jährigen Engländers Nick Hurran kurz vor der adventlichen Engel-Offensive Hollywoods in die Kinos kommt, bei der die mythologischen „Boten“ an der Grenze zwischen Leben und Tod eine entscheidende Rolle spielen. Während aber Robin Williams in „Hinter dem Horizont“ in kindische Fabelwelten abdriftet, erhebt sich die Kamera in Hurrans Eingangssequenz nach einem langen Blick auf die Wüste Nevadas kurz über die Wolken und gleitet dann in einer behutsamen Flugbewegung dorthin, wo das Leben spielt: in eine mausgraue, sterile Fabrikationshalle im nordenglischen Rawtenstall, wo eine Heerschar blaubemäntelter Arbeiterinnen winzige Bauteile in Elektroplatinen stöpselt. Wie bei jeder Geschichte macht dieser Anfang erst vom Ende her Sinn, denn zunächst glaubt man sich in einer typisch britischen Sozialkomödie mit bissigem Humor und dem genauen Blick auf die Alltagsrealität. Jackie, eine energische Endvierzigerin, gibt den Ton an und liefert sich mit dem Vorarbeiter spitze Wortgefechte. Es ist Freitag und damit „Girls’ Night“: der Abend, an dem die Frauen gemeinsam ins örtliche Lotterielokal ausgehen. Während man sich am Eingang in die Reihe stellt, läßt eine Taube ihre Notdurft auf Jackies Freundin Dawn fallen, was kichernd zum Vorboten des Glücks stilisiert wird. Dieses scheint der gutmütigen Mutter zweier Kinder von diesem Augenblick an tatsächlich hold zu sein, denn immer wenn Dawn eine Münze ins Spiel wirft, kommt sie vielfach zurück. Vorerst knackt sie beim Bingo den Jackpot und ist mit einem Schlag um 100.000 Pfund reicher, wovon sie die Hälfte an Jackie abgibt. Der unverhoffte Geldsegen zieht rasch Veränderungen nach sich: Jackie schmeißt ihre Arbeit hin, verläßt ihren Mann und zieht zu ihrem Geliebten. Dawn aber erfährt, daß eine alte Krebserkrankung wieder ausgebrochen ist. Ohne ihre Familie einzuweihen, nimmt sie die Strahlenbehandlung auf, bricht sie aber ebenso stillschweigend wieder ab, als sich bis auf die qualvollen Nebenfolgen keine Besserung einstellt.

Mit knappen Szenen umreißt Hurran Personen, Konflikte und Ambiente und braucht auch nur eine Handvoll Einstellungen, um vom nüchtern-sarkastischen Porträt des Arbeitermilieus zum tragischen Kern vorzudringen: dem Sterben einer 44jährigen, die langsam aus dem Gröbsten heraus wäre. Die Schulden fürs Eigenheim sind fast abgezahlt, die Kinder auf dem Sprung in die Selbständigkeit, so daß sich das Dasein ein wenig von der ruhigeren Seite zeigen könnte. Ein gedämpftes Klaviermotiv und zwei lange Bilder der Einsamkeit sind die einzigen Konzessionen, die dem Zuschauer gestattet werden, ehe der Film ihn in den schmerzhaften Loslösungs- und Reifungsprozeß verwickelt, den nicht Dawn, sondern Jackie durchlaufen muß. Als die resolute Kämpferin herausfindet, was Sache ist, löst sie ihren Scheck ein, kauft Tickets und erfüllt Dawns heimlichen Lebenstraum: einmal in Las Vegas gewesen zu sein. Auch dort spucken die einarmigen Banditen Dollar um Dollar, wenn Dawn sie nur streift, und ein sonnengegerbter Cowboy lädt beide zum Ritt durch den Red Rock Canyon ein. Während Jackie auf den Spuren von Thelma und Louise mit der Revolte das Unabwendbare verdrängen will, findet Dawn zur inneren Ruhe: Ein Engel habe sie im Traum auf die Wange geküßt, erzählt sie Jackie, „es fühlte sich an, als käme ich heim“. Dieser Engel, den Dawn in jedem Menschen vermutet, hat keine Gestalt und keinen Namen, wird als fiktive Figur aber zum persönlichen Integrations- und Kristallisationsmoment, weil er auch Jackie ein Brücke baut, mit dem Tod der Freundin ihre Unrast und hektische Lebensgier loszulassen. Ihre Trauerrede am Sarg wird zur ehrlichen Selbsterkenntnis, in der sie Dawns „Auftrag“ annehmen kann, ihren eigenen Engel zu suchen. Die Qualität dieses nahegehenden, weder melancholisch noch zynisch gefärbten Films gründet nicht allein in der feinen Balance zwischen Unterhaltung und tiefen Gefühlen, bei der das Drehbuch eine herausragende Vorlage bot; Hurrans Sinn für eine zurückhaltende Bildsprache sowie die überzeugenden Fähigkeiten seiner beiden Hauptdarstellerinnen machen erst eine existentielle Auseinandersetzung mit dem Thema möglich. Die Frage nach dem Sinn eines solchen Schicksals ist darin ebenso selbstverständlich aufgehoben wie die Erschütterungen durch Schmerz, Angst und Trauer, mit denen das Ende des Lebens verbunden ist. Selbst der versöhnliche Schluß wahrt die zutiefst menschlichen Konturen der Handlung und gewinnt der Rede von den Engeln eine ähnliche metaphorisch-poetische Qualität ab, wie sie in religiösen Erzählungen aufscheint. Hollywood dagegen hat sich von der Naivität einer Nazarener-Malerei noch nicht verabschiedet, weshalb dortige Ausflüge an die Ränder der Erkenntnis in aller Regel über die Qualität von Jahrmarktbuden nicht hinauskommt. „Girls’ Night“ dagegen verstört in seiner Ehrlichkeit – und mildert die Unruhe durch einen Tod, dem die Sterbende einen Sinn abgewinnt, indem sie ihm nicht zu entkommen sucht. In früheren Zeiten nannte man dies „ars moriendi“: die Kunst, zu sterben.
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