Drama | Russland/Frankreich 1997 | 93 Minuten

Regie: Pawel Tschuchrai

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs schließen sich eine junge Frau und ihr kleiner Sohn einem vermeintlichen Offizier der Sowjetarmee an. Das Kind findet keine Bindung zu dem Mann, der es zunehmend aus dem Leben der Mutter verdrängt und sich später als Verbrecher erweist. Jahre später, als der aus der Haft entlassene Mann die tote Mutter verhöhnt, rächt sich der herangewachsene Sohn für alle Demütigungen. Ein altmodisch inszenierter, aber bewegender Film, der an die Traditionen des "klassischen" Sowjetkinos anknüpft. Ohne das Parabelhafte der Handlung überzustrapazieren, bringt er die Ereignisse einfach und klar auf den Punkt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
WOR | LE VOLEUR ET L'ENFANT
Produktionsland
Russland/Frankreich
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
NTV-Profit/Productions Le Pont/Roissy Films
Regie
Pawel Tschuchrai
Buch
Pawel Tschuchrai
Kamera
Wladimir Klimow
Musik
Wladimir Daschkewitsch
Schnitt
Marina Dobrjanskaja · Natalja Kutscherenko
Darsteller
Wladimir Maschkow (Tolja) · Ekaterina Rednikowa (Katja) · Mischa Filiptschuk (Sanja)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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IMDb | TMDB

Diskussion
Eine Totale über ein riesiges russisches Feld: Die Kamera fährt hinab – auf eine junge Frau zu, die dort, auf dem Feld allein ein Kind zur Welt bringt. Es ist Kriegsende. Ein paar Jahre später lernt die Frau mit ihrem Sohn in einem überfüllten Zug einen Offizier kennen: Tolja, der sich nicht allzu sehr bemühen muß, um die Zuneigung der Frau zu erringen. Der Junge jedoch, der anfangs durchaus stolz auf den starken Mann ist, der ihn und die Mutter beschützt, ist nicht bereit, Tolja als Vater anzuerkennen. Er wartet weiter auf seinen leiblichen Vater, den er noch nie gesehen hat. Zunehmend mißtrauisch steht der kleine Sanja der Brutalität gegenüber, mit der der Geliebte seiner Mutter seinen Platz im Leben erobert und verteidigt – und die Mutter muß mit ansehen, wie der Geliebte sich mehr und mehr als ein Gauner entpuppt, der jede Gelegenheit nutzt, um daraus Kapital zu schlagen, der die Menschen an seiner Seite bedenkenlos ausnützt, betrügt und übervorteilt. Das brutale Gesetz des Krieges, das stets auf der Seite des Stärkeren ist, scheint sich tief in die Seele des Offiziers eingegraben zu haben. Nur der Stärkere, der auch bereit ist, skrupellos seine Stärke auszuspielen, ist der Sieger, verkörpert die Macht. Als schließlich Mutter und Sohn die ganze Wahrheit erkennen, daß der geliebte Mann und Ersatzvater nichts weiter ist als ein gewöhnlicher Dieb, sind sie nicht mehr in der Lage, sich von dem Ganoven zu trennen. Bei einem letzten Versuch, sich zu befreien, wird der vermeintliche Offizier verhaftet und kommt ins Gefängnis. Einige Zeit später müssen der Junge und seine Mutter erkennen, wie unter den Häftlingen, die von Wachmannschaften und ihren Hunden grausam mißhandelt werden, auch Tolja ist. Da ruft der entsetzte Junge dem mißhandelten Häftling zum ersten Mal „Vater!“ zu. Jahre später – die Mutter ist an einer Abtreibung gestorben – trifft der Junge Tolja wieder. Doch dieser hat für die tote Mutter nur noch Spott und Hohn. Daraufhin tötet der Junge den Dieb.

Ein eigenartig altmodischer, aber dennoch – oder vielleicht auch gerade deshalb – bewegender Film ist das. Die Geschichte, die hier erzählt wird, könnte fast die Fortsetzung eines Films sein, der vor fast 40 Jahren von der Erneuerung des Sowjetfilms kündete: Grigori Tschuchrais „Die Ballade vom Soldaten“ (1960) beschrieb wenige Stunden aus dem Leben des Rotarmisten Aljoscha Skworzow, der als Belohnung einige Tage Heimaturlaub erhielt und bei der langen Reise heim zu seiner Mutter das Mädchen Schura kennen und lieben lernt. Aljoscha könnte der Vater des kleinen Jungen aus dem neuen Film sein, der wirkliche Vater, auf den der Junge sein ganzes Leben vergeblich wartet. Die große Totale, die im „Dieb“ mit der Geburt endet, gab auch der „Ballade vom Soldaten“ damals ihren Rahmen, zu Beginn und am Ende des Films. „Die Ballade vom Soldaten“ endet allerdings mit der Nachricht vom Tod des Soldaten – „Der Dieb“ beginnt an scheinbar demselben Ort mit der Geburt eines Soldatenkindes. Und noch eine Assoziation zu einem Film von Tschuchrai stellt sich ein: Einer der wichtigsten sowjetischen „Tauwetter“-Filme war 1961 „Klarer Himmel“. Die bewegteste Szene damals spielte auf einem Provinzbahnhof, wo viele Frauen und Kinder auf ihre Männer und Väter warten, die aus einem Arbeitslager kommen sollen. Der sehnsüchtig erwartete, endlos lange Zug kommt – doch er fährt durch, die verzweifelten Frauen und Kinder zurücklassend. Der emotionale Höhepunkt des neuen Films: Wachpersonal und Schäferhunde treiben unter den entsetzten Augen der Frauen und Kinder die Gefangenen in einen bereitstehenden LKW.

„Der Dieb“ ist keine „Abrechnung“ mit dem Stalinismus. Das Parabelhafte der Geschichte wird nicht überstrapaziert. Der, zu dem anfangs alle in Ehrfurcht aufblicken, der sich allzu bald als ein gewöhnlicher Ganove entlarvt, der Offizier der Roten Armee, ein Held, kann natürlich zum Symbol stilisiert werden. Wiederholt taucht in den Gesprächen die Figur Stalins auf, der von allen als ein Über-Vater betrachtet wird. Tschuchrai stattet seinen Dieb schon rein äußerlich mit all den Elementen aus, die das Bild des heldenhaften Offiziers des Großen Vaterländischen Krieges im Sowjetfilm geprägt haben. Diesen Offizier kennt man. In einer Unmenge sowjetischer Filme tauchte er auf. Selbst in Tarkowskijs Debüt „Iwans Kindheit“ (fd 12 327) ist diese engelsgleiche, überlebensgroße Figur zu finden. Pawel Tschuchrai behauptet, sein Film erzähle von jener Generation (also wohl auch einer eigenen), die in unserer Zeit die Geschicke des Landes beeinflusse. Von Menschen, die ihre Väter nie gekannt haben und ihre Über-Väter erst töten mußten, um wirklich befreit zu sein. Gewiß eine etwas krampfhafte Über-Interpretation, die sich im Film allerdings erfreulicherweise nicht aufdrängt. Die Geschichte wird sehr einfach, sehr klar und sehr konventionell auf den Punkt gebracht.

Fast ist es eine Sensation, zumindest ein Kuriosum im deutschen Kinoalltag: ein russischer Film in einem deutschen Verleih! Daran mögen die französischen Co-Produzenten „schuld“ sein. Ein Indiz dafür die eigenartige Schreibweise des Regisseurnamens. Bisher ist hierzulande noch kein Regisseur mit Namen Pavel Tschuhrai bekannt. Ein Pawel Tschuchrai jedoch sehr wohl: schon 1981 war in den Kinos der DDR „Menschen im Ozean“ von ihm zu sehen. Weitaus bedeutsamer dagegen der Gegenwartsfilm „Behaltet mich so in Erinnerung“, den 1989 der NDR ausstrahlte. Und natürlich ist auch Vater Grigori Tschuchrai bekannt, einer der großen Erneuerer des Sowjetfilms der 50er und 60er Jahre. Pawel Tschuchrai, sein Sohn, versucht sich deutlich in diese Tradition zu stellen. Die Väter und die Söhne im russischen Kino – nach Waleri und Pjotr Todorowski (vgl. fd 6/1998, S. 42) jetzt also Pawel und Grigori Tschuchrai.
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