Komödie | Deutschland 1997 | 78 Minuten

Regie: Laila Pakalnina

Ende der 50er-Jahre gerät die Welt einer kleinen lettischen Küstenstadt aus den Fugen, als am Strand ein einzelner Frauenschuh entdeckt wird, hinter dem die sowjetische Militärmacht eine feindliche Spionin vermutet. Drei Soldaten werden losgeschickt, den Eindringling zu finden. Satirische Komödie nach Motiven des Aschenputtel-Märchens. Mit ebenso schlichten wie avantgardistischen Mitteln betreibt sie eine ästhetische Revision des Kalten Krieges und entlarvt die kollektive Hysterie als bleichen Tagtraum anonymer Militärs. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
THE SHOE
Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Schlemmer Film/ZDF/arte
Regie
Laila Pakalnina
Buch
Laila Pakalnina
Kamera
Gints Berzins
Musik
Anrijs Krenbergs
Schnitt
Sandra Alksne
Darsteller
Igor Buraks (Andrej, Soldat Nummer 1) · Vadims Grossmans (Volodja, Soldat Nummer 2) · Jaan Tätte (Juhan, Soldat Nummer 3) · Vilke Liman (Vilka)
Länge
78 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Komödie
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Diskussion
Es ist ein Bild wie von William Turner: ein abendlicher Sandstrand, gegen den träge Wellen schwappen, während die Sonne als glühender Reif den Horizont in Brand setzt. Ab und an schreit eine Möwe; ansonsten „schweigt“ die weite, menschenleere Totale - Natur, diesseits der historischer Zeit. Bis nach einer kleinen Ewigkeit das Rattern einer Planierraupe anschwillt, die von links nach rechts den Küstenstrich durchpflügt. Am nächsten Morgen folgt ihr eine dreiköpfige Patrouille, die plötzlich in helle Aufregung gerät. „Die Grenze wurde verletzt“, schreit einer auf Russisch, ein anderer schießt eine Signalrakete in den weißen Himmel. Sirenen heulen auf, Kriegslärm übertönt die gemächlichen Brecher des Meeres. Das alles filmt die lettische (Dokumentarfilm-)Regisseurin Laila Pakalnina in ihrem Spielfilmdebüt in einer einzigen, statischen Einstellung aus „olympischer“ Distanz; nur die Tonspur erlaubt eine intimere Anteilnahme. Mit formal ähnlich außergewöhnlichen Brüchen skizziert der Film eine groteske Szenerie, die zeitlich Ende der 50er-Jahre in dem lettisch Küstenstädtchen Liepaia spielt und einen kunstvoll gebrochenen Blick auf die Ära des Kalten Krieges wirft. Immer wieder klaffen (statisches) Bild und (virtuoser) Ton extrem auseinander: Viele Aktionen finden knapp außerhalb des Bildkaders statt, gelegentlich fängt die Kamera nur die Schattenrisse der sowjetischen Soldaten ein, manchmal verkehrt der gewählte Ausschnitt den Inhalt optisch ins Gegenteil. Die Handlung rankt sich wie im Grimm'schen Märchen vom Aschenputtel um einen einzelnen Schuh, nur dass dessen Trägerin nicht wegen Herzensangelegenheiten, sondern als feindliche Spionin gesucht wird. Das weibliche Schuhwerk, über das die Sowjetsoldaten stolpern, wird nämlich im Sicherheitsstreifen am Strand gefunden, der allabendlich sorgsam gepflügt wird, um fremde Eindringlinge zu bemerken. Die drei Soldaten werden abkommandiert, die Frau zu finden, der der Schuh gehört. Da es sich bei ihnen aber nicht um die hellsten Köpfe handelt, gestaltet sich ihre Suche als skurrile Odyssee durch eine kleinstädtisch-ländlich Welt, in der ihre stereotypen Fragen nach der „verdächtigen Frau“ meist auf schulternzuckende Gleichgültigkeit stoßen. Obwohl die Anstrengungen des Trios mit der Zeit etwas systematischere Züge annehmen, bleibt ihm die Lösung verborgen: ein Scherz, der aus Überschwang, Lebenslust und vielleicht auch aus einer gewissen Protesthaltung gegenüber den sowjetischen „Brüdern“ geboren wurde.

„Der Schuh“ ist ein kontemplatives Kleinod voller Anspielungen und Assoziationen, die hinter dem volkstümlich-naiven Plot umso greifbarer aufscheinen. Am bemerkenswertesten ist dabei die spielerische Demaskierung der Sowjetmacht, die einerseits auf schwejk’sche Dimensionen eingedampft wird, durch eine reflektierte Filmsprache zugleich aber auch individuelle Züge erhält: Die anfängliche Dominanz starrer Totalen, in der die Soldaten abstrakte Funktionsträger bleiben, nimmt im Lauf des Films stetig ab, bis in halbnahen Aufnahmen Gesichter, Namen und in kurzen Momenten sogar angedeutete Biografie erahnbar werden. Besonders erstaunt der ungewöhnlich abgeklärte Blick auf eine Epoche, deren Kälte auch filmhistorisch ausgiebig beschworen wurde. In Pakalninas sonnendurchfluteter Satire hingegen verwandelt sich die waffenstarrende Block-Hysterie in einen fahlen Tagtraum, der primär stiernackige Obristen plagt, während die Bevölkerung in einer ganz anderen (Traum-)Zeit zu leben scheint. Eine solche Revision, wie sie die renommierte Dokumentarfilmerin hier mit ebenso simplen wie avantgardistischen Mittel betreibt, wurde zwar erst durch die Perestroijka-Politik möglich, formuliert zugleich aber auch eine dezente politisch-ästhetische Selbstkritik an den Trugbildern eines kollektiven Wahns, gegen den niemand aufbegehrte. Den filigranen Schwarz-Weiß-Bildern des Kameramanns Gints Berzins gelingt es hingegen scheinbar mühelos, den Unterschied der Welten plastisch sichtbar zu machen, die ineinander verschachtelt sind und sich dennoch kaum berühren: ländlich-pastose Zeitlosigkeit und militärischer Drill. Die Turner-Assoziation, die sich auch im fulminanten Schlussbild wie von selbst wieder einstellt, findet darin allerdings eine ironische Brechung, da Pakalnina die Naturzeit, deren Niedergang Turner protokollierte, zumindest als ästhetisches Korrektiv wieder belebt.
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