Fantasy | Deutschland 1999 | 91 Minuten

Regie: Veit Helmer

In einem surreal anmutenden Niemandsland ist ein heruntergekommenes altes Bad die bedrohte Heimstatt einiger Menschen geworden, die dem Zerfall des Gebäudes, aber auch der Gewissenlosigkeit ihrer korrupten Widersacher Einfallsreichtum und utopische Tatkraft entgegen setzen. Ein detailverliebter, fantasiereicher Bilderkosmos, gespeist aus zahlreichen Wurzeln der Filmgeschichte. Konzipiert als turbulent-poetisches Traumgespinst, wird das moderne Märchen fast ohne Worte erzählt und bereichert durch skurrile Figuren, bizarre Dekors und eine auch in der Farbgebung faszinierende Bildgestaltung. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Veit Helmer Filmproduktion/Südwestrundfunk/MDR
Regie
Veit Helmer
Buch
Michaela Beck · Veit Helmer
Kamera
Emil Christow
Musik
Jürgen Knieper
Schnitt
Araksi Mouhibian
Darsteller
Denis Lavant (Anton) · Chulpan Hamatova (Eva) · Philippe Clay (Karl) · Terrence Gillespie (Gregor) · E.J. Callahan (Inspektor)
Länge
91 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Fantasy | Märchenfilm | Stummfilm
Externe Links
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Diskussion
Ein Mann kämpft sich durch peitschenden Regen und heftige Sturmböen, um seinen Platz auf einer Art Kommandobrücke einnehmen zu können. Er blickt durch ein Fernglas, beobachtet Menschen und Häuser – und fängt, ganz nah, eine Möwe in seinem Blickfeld ein, die eindeutig unecht ist: ein Modell mit angeklebten Federn, gleichsam der Augsburger Puppenkiste entsprungen. Es ist dies, ganz zu Beginn von „Tuvalu“, eine irritierende, fast lächerlich anmutende Begegnung, die man aber bald schon als sehr pointiert eingesetztes Signal für die eigentümliche Programmatik des Films verstehen kann: Auch wenn im weiteren Verlauf der Geschichte nicht ein einziges weiteres so leicht zu durchschauendes Modell auftauchen wird, ist man sich doch stets der Künstlichkeit der von Veit Helmer geschaffenen (Märchen-)Welt bewusst – und genießt zunehmend diesen detailfreudig entwickelten Kosmos, der fern der eigenen Wirklichkeit ist und doch auf schillernde, fabulierfreudige Art und Weise eine so ganz und gar konkrete Gestalt annimmt, dass man sie mit allen Sinnen zu erfassen vermag. Veit Helmer schuf ein modernes Kunstmärchen, in dem er von fantastisch-wundersamen Begebenheiten und Zuständen erzählt, fern jeglicher zeitlich-räumlichen Festlegung, das allein aus dem Geist der filmischen Erzählung heraus „glaubwürdig“ wird; dabei ist „Tuvalu“ Kunstgewerbe im besten Sinne des Wortes, das sich mit obsessiver Fabulier- und Detailfreude aus dem Füllhorn der Kinematografie bedient: der Slapstick früher Chaplin- und Keaton-Komödien ist ebenso vertreten wie das bombastische Dekor des „Panzerkreuzer Potemkin“, das wiederum durch die Maschinenwelten eines Fritz Lang oder fellineske Arabesken übersteigert wird, um sich am Ende in der von viel Kunstlicht und Geheimnis durchtränkten Innenwelt eines Tarkowskijs, eines Kusturicas oder anderer Filmkünstler aus dem narrativen Kontext des osteuropäischen Kinos wieder zu finden. Das alles ist verspielt, vermeintlich absichtslos und naiv – und doch Spiegel einer ungestümen Leidenschaft für die Schönheiten filmischer Bilder, (selbst-)verliebt in die Kunst von Licht und Schatten, von Bewegung und Bewegtheit. Kaum hat man in jüngster Zeit ein vergleichbar „magisches“ Bild auf der Kinoleinwand gesehen wie das nächtliche Bad der Hauptdarstellerin im Becken des zentralen Schauplatzes, einem heruntergekommen Schwimmbad: Ihr nackter Körper schimmert im Licht durchfluteten Wasser, während sie ihren Goldfisch aus seinem kleinen Glas „befreit“ und ihn um sich herum schwimmen lässt – im großen, vermeintlich uferlosen Becken, in dem er nach wie vor umhütet ist und sich zugleich der Illusion grenzenloser Freiheit hingeben darf.

Veit Helmer erzählt eine betont schlichte Fabel, deren Reiz unter anderem auch darin begründet liegt, dass er für sie keine konkrete verbale Sprache benötigt, diese vielmehr auf wenige, universell verständliche Wörter reduziert und das Geschehen ansonsten mittels Kameraperspektiven und Montage erzählerisch „ordnet“ und vermittelt. So kann man ohne Mühe der Geschichte des naiven Anton folgen, der bislang nie jenes besagte Schwimmbad verlassen und die Außenwelt nur durch sein Fernglas betrachtet hat. Inzwischen ist das Bad, einst ein prunkvolles, reich verziertes Jugendstil-Gebäude, heruntergekommen, vom Verfall bedroht und zum Spekulationsobjekt von Antons skrupellosem Bruder Gregor geworden. Dieser spinnt so manche Intrige, um dem blinden Vater eine Vollmacht zum Abriss abzuluchsen. Doch der Vater lebt in der von Anton und der Angestellten Martha mühevoll aufrechterhaltenen Illusion, dass das Bad Tag für Tag gut besucht sei, und verweigert brüsk den Verkauf. Als eines Tages die schöne Eva in Begleitung ihres alten Vaters im Bad auftaucht, geht für Anton die Sonne auf. Umso schmerzlicher ist es für ihn, dass ihre kokett-verspielte Annäherung jäh endet, als Evas Vater von Gregor durch einen fingierten Unfall getötet wird - Eva hält das marode Bad und damit indirekt auch Anton für den Schuldigen. Sie bezieht einen kleinen, vom Vater geerbten Dampfer, den sie wieder flott machen will; dazu aber benötigt sie ein sehr seltenes Ventil der Marke „Imperial“, und das sitzt ausgerechnet im Herzen jener Maschine, die Antons Bad am Leben hält. So werden er und Eva vorübergehend zu Rivalen, bis ihre unverbrüchliche Liebe sie wieder vereint und sie, gemeinsam mit einer Schar obdachloser Freunde, gegen Gregors Ränke vorgehen. Zwar ist der Untergang des Badehauses nicht mehr zu verhindern, aber sein „Herz“, die Antriebsmaschine, nehmen Anton und Eva mit auf ihre gemeinsame Seereise – hin zu neuen Ufern, zur mythischen Insel Tuvalu.

Helmer drehte den Film in Schwarz-Weiß, um in anschließend in einem aufwendigen Verfahren Szene für Szene unterschiedlich einzufärben – ein faszinierender Effekt, der der Viragierung alter Stummfilme entspricht und die jeweiligen Stimmungen von Innenräumen und Außenszenerien vorgibt. Nicht minder viel Mühe wurde in die Ausstattung, aber auch die akustische Gestaltung investiert, sodass den Bildern eine adäquate Klangwelt zur Seite gestellt wurde. Das alles wurde mit vergleichsweise geringem Budget realisiert, wobei der Film nie in den Ruch einer pompös-protzig ausgestellten Großproduktion kommt. Im Gegenteil: Das akribisch-verspielte Ambiente bietet erst die funktionale Plattform für die Glaubwürdigkeit der skurrilen Figuren und ihre ebenso schlichten wie „reinen“ Abenteuer, bei denen traditionell die Liebe über die Macht des Bösen triumphiert. Man mag Helmer diese „Unbedarftheit“ vorwerfen und das Drehbuch für allzu schlicht halten, übersieht dabei dann aber den eigentlichen erzählerischen Nexus seines Films: die traumhaft schönen Bilder und Klänge zielen mit aller gebotenen Direktheit ins Zentrum dessen, was den sinnlichen Reiz des Kinos ausmacht – und gerade die Schaulust des aufmerksamen Betrachters wird von „Tuvalu“ aufs Schönste bedient.
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