- | Österreich/Deutschland 1999 | 103 Minuten

Regie: Barbara Albert

Eine aus Jugoslawien stammende Schwesternschülerin und eine österreichische Konditorei-Angestellte, die in derselben Arbeitersiedlung am Nordrand Wiens aufgewachsen und zur Schule gegangen sind, treffen sich im Winter 1995 in einer Abtreibungsklinik wieder. Vor dem Hintergrund des mit Dokumentaraufnahmen eingefangenen Balkan-Kriegs, einer von sexuellem Missbrauch und Gewalt geprägten Familiensituation sowie verschiedener Beziehungsprobleme zeichnet der Film eine berührende, milieugenaue Studie von Menschen, die ihrer "Heimat" und der Liebe beraubt wurden. Präzise fotografiert, schauspielerisch überzeugend, entwickelt sich die Inszenierung zu einem optimistischen Neorealismus. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
NORDRAND
Produktionsland
Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Lotus-Film/Zero Film/Fama Film
Regie
Barbara Albert
Buch
Barbara Albert
Kamera
Christine A. Maier
Schnitt
Monika Willi
Darsteller
Edita Malovcic (Tamara) · Nina Proll (Jasmin) · Tudor Chirilá (Valentin) · Astrit Alihajdaraj (Senad) · Michael Tanczos (Roman)
Länge
103 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Sie wachsen in einem in den 70er-Jahren am Nordrand von Wien hochgezogenen Siedlungs-Ghetto auf, gehen in dieselbe Klasse: die aus Jugoslawien stammende Tamara und das österreichische Arbeiterkind Jasmin. Tamara hat man in der Schule die Läuse angedichtet, Jasmin hatte sie; Tamara war immer eifersüchtig auf die blond gelockte Klassenkameradin, die alle mochten, und in ihren Kinderzeichnungen spiegelten sich ihre Sehnsüchte wieder: Jasmin malte sich als glückliche Mutter vieler Kinder, und Tamara sah sich im schmucken Weiß der Krankenschwester. Im Winter 1995 treffen sich die beiden in einer Abtreibungsklinik wieder. Aus Tamara ist eine junge hübsche Frau geworden, die sich ihren Berufswunsch erfüllt hat und mit dem gerade seinen Militärdienst absolvierenden Roman zusammenlebt. Jasmin dagegen, die in einer Konditorei bedient, lebt, etwas „aus dem Leim gegangen“, immer noch mit Eltern und Geschwistern in der viel zu kleinen Wohnung und schläft mit jedem, der ihr Zuneigung vorgaukelt. So kommen für ihr Kind auch gleich mehrere Väter in Frage. Tamara dagegen treibt ab, weil sie für ihre Beziehung keine Zukunft mehr sieht. Danach trennen sich die Wege der beiden jungen Frauen wieder. Wenig später entflieht Jasmin ihrem gewalttätigen Vater. Sie betrinkt sich mit Freunden und wird am nächsten Morgen halb erfroren von dem illegal eingereisten Bosnier Senad am Ufer der Donau gefunden. Nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus nimmt Tamara sie bei sich auf. Jasmin verliebt sich in ihren Retter und wird wieder schwanger. Diesmal entscheidet sie sich allerdings dafür, das Kind auszutragen. Für Tamara dagegen rückt ein Happy End erst einmal in weite Ferne: Ihr neuer Freund, der junge rumänische Lebenskünstler Valentin, wandert nach Amerika aus, während sie zu ihrer Familie nach Sarajewo zurückkehrt.

Der erste lange Spielfilm der bereits mit zahlreichen Kurzfilmpreisen ausgezeichneten Regisseurin Barbara Albert war nicht nur der erste österreichische Film seit Jahrzehnten, der 1999 den Sprung in den Wettbewerb der Filmfestspiele in Venedig schaffte und dort mit dem „Marcello-Mastroianni-Preis“ für die beste Nachwuchsdarstellerin (Nina Proll) ausgezeichnet wurde. „Nordrand“ festigte auch den Ruf der jungen österreichischen Filmemacher, derzeit das innovativste deutschsprachige Kino zu kreieren und jene gesellschaftspolitischen Filme zu drehen, die man hierzulande so schmerzlich vermisst. Ähnlich wie das neue soziale Kino aus Frankreich und Belgien, das 1999 in Cannes mit Bruno Dumonts Film „L’Humanité“ (fd 34 181) sowie „Rosetta“ der Brüder Dardenne triumphierte, nähert sich auch Barbara Albert über die Liebe zu ihren Figuren deren von einer unbarmherzigen Gesellschaft geschlagenen Wunden. Trotz der auf den ersten Blick überfrachtet wirkenden Problemfülle gelingt es ihr dank des lakonischen Inszenierungsstils, jede Melodramatik zu vermeiden. Wie beiläufig streut sie Dokumentaraufnahmen vom Balkankrieg ein, die die innere Zerrissenheit ihrer Protagonisten erfahrbar machen, die die alte Heimat verloren und die neue noch nicht gefunden haben. Dieser Dokumentarismus findet sich auch in der Spielhandlung, die präzise beobachtete Milieustudien entwickelt; in jener Szene, in der sich Jasmins Vater in ihrem Beisein von ihrer jüngeren Schwester befriedigen lässt, erreicht der Film gar eine geradezu erschreckende Authentizität. Und doch gibt Barbara Albert keine Antworten; sie formuliert keine moralischen Botschaften und fällt keine Urteile. So, wie ihre Figuren mit dem Schicksal klar kommen müssen, verlangt sie auch vom Zuschauer das Einlassen auf die sich immer wieder durch die äußeren Umstände ändernden Lebensentwürfe ihrer Figuren. Da einen die Inszenierung nicht durch Sentimentalität überrumpelt und zur Identifikation „zwingt“, kann man aus sicherer Distanz einen poetischen Neorealismus beobachten, der im funktionierenden Zusammenleben verschiedener Nationalitäten fast schon utopische Züge annimmt. Aber warum nicht davon träumen, wenn auch Jasmin und ihre Schwester sich durch Märchenfilme im Fernsehen in eine Welt entführen lassen, die sie wenigstens für Augenblicke die triste Realität vergessen lassen? In Tamaras Augen blitzt trotz aller Traurigkeit immer wieder Optimismus auf, der die melancholische Grundstimmung aufbricht.

Dass „Nordrand“ wie aus einem Guss wirkt, liegt auch an den schnörkellosen, sich den Protagonisten nie aufdringlich nähernden Bildern der Kamerafrau Christine A. Maier sowie am berührenden Spiel der beiden Hauptdarstellerinnen. Kaum zu glauben, dass Edita Malovcic noch nie vor einer Filmkamera stand. Bei ihr verbinden sich natürliche Schönheit und schauspielerisches Talent zu einer charismatischen Leinwandpräsenz. Nina Proll spielt die „Proletin“ Jasmin mit einer Intensität, die in keiner Sekunde als Spiel zu erkennen ist: Sie erscheint wie ein echtes Kind vom Nordrand Wiens.
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