Muratti & Sarotti

Dokumentarfilm | Deutschland 1999 | 79 Minuten

Regie: Gerd Gockell

Streifzug durch die Geschichte des deutschen Animationsfilms von 1920 bis 1960, der einen Bogen von den avantgardistischen Anfängen über die Emigranten und die Zeit im Dritten Reich bis zum Kino in beiden deutschen Staaten nach 1945 schlägt. Die kurzen biografischen Angaben zu Regisseuren und Interviews mit Zeitzeugen machen die Vielfalt der Animationsfilmkunst deutlich. Ein ebenso unterhaltsamer wie informativer Film, dessen Materialfülle mitunter zwar zu Verkürzungen und Verflachungen führt, der aber dennoch Pionierarbeit leistet. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Gockell & Winter
Regie
Gerd Gockell
Buch
Gerd Gockell
Kamera
Thomas Bartels
Schnitt
Wolf-Ingo Römer
Länge
79 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Genre
Dokumentarfilm

Diskussion
Offensichtlich mag Gerd Gockell den tschechischen Surrealisten Jan Svankmajer. Ganz in dessen Stil ist das szenische Ambiente gestaltet, das den Rahmen seiner „Geschichte des deutschen Animationsfilms 1920 bis 1960“ abgibt: halbdunkle, verwinkelte Räume mit bis zur Decke gestapelten Pappkartons, die wie von Geisterhand geöffnet und bewegt werden und aus denen Fotos oder Dokumente kriechen; dazu imaginäre Töne aus vergangenen Zeiten: Musik, Stimmen, Geräusche. Gockell nimmt den Zuschauer mit in ein Zwischenreich der Kinohistorie, lässt ihn teilhaben an der spukhaften Auferstehung verborgener Schätze, der Recherche nach spannenden Schicksalen. Dabei war das Unterfangen von vornherein ein Wagnis. Die zur Verfügung stehende Zeit vergeht wie im Flug, und Gockell kann seine Kapitel immer nur anreißen, nie vertiefen. Dem Film Oberflächlichkeit zu bescheinigen, wird ihm indes kaum gerecht. Stattdessen sollte „Muratti & Sarotti“ als eine Art Prolog begriffen werden, als allererster Schritt, dem weitere folgen müssen. Wie notwendig es ist, die Geschichte des deutschen Animationsfilms zügig aufzuarbeiten, belegt allein schon die Tatsache, dass es nur noch wenige Zeitzeugen gibt. Selbst die von Gockell befragten Kinder von Hans Fischinger oder Herbert Seggelke sind nicht mehr ganz jung; ihre Väter starben meist zwischen 1970 und 1990, ohne dass sie vor der Kamera zu ihrem Lebenswerk um Auskunft gebeten wurden. „Muratti & Sarotti“ leistet also Pionierarbeit.

Gockell beginnt mit der Avantgarde der 20er-Jahre, zitiert aus Walther Ruttmanns „Opus III“ (1924), verweist auf das Credo des „absoluten Films“, keine Geschichte mehr erzählen zu wollen, sondern selbst die Geschichte zu sein. Ruttmanns Anpassung ans Dritte Reich wird später u.a. mit einer Szene aus „Metall des Himmels“ (1935) belegt. Leider geht Gockell nicht näher auf innere Korrespondenzen zwischen Avantgarde und NS-Kunst ein: allein dieses Thema benötigte einen Film für sich – so wie die Schicksale deutschen Emigranten, von denen Gockell u.a. Hans Richter, Oskar Fischinger und Bertold Bartosch erwähnt, dessen „L’ Idee“ (1931/32) nach einer Vorlage von Frans Masereel entstand. Überhaupt enthalten die angerissenen Biografien unendlich viel Stoff: etwa die Story von Hans Fischinger, Oskars Bruder, der in Deutschland blieb, in der Gaststätte seiner Familie arbeitete und quasi im Hinterzimmer den letzten abstrakten Film des Dritten Reichs produzierte: „Tanz der Farben“ (1938/39). Tobis kaufte die Rechte, führte ihn jedoch nie auf; der Regisseur musste im April 1940 in den Krieg und kehrte nicht heim. Erregend auch die Vita von Wolfgang Kaskeline, der mehrere Jahre kalt gestellt wurde, weil er keinen „arischen Nachweis“ erbringen konnte; oder von Rudolf Pfenninger, der Filme mit synthetischem Klang erzeugte („Pitsch und Patsch“, 1932) und sich ab Mitte der 30er-Jahre als Architekt bei der Bavaria verdingte. Mit den Biografien und Zitaten spiegelt „Muratti & Sarotti“ nicht nur Zeit-, sondern auch Kunstgeschichte wider. So sind verschiedene Techniken zu sehen: konventioneller Zeichentrick, Puppentrick, die Arbeit mit Öl auf Plexiglas wie bei Fischingers „Motion painting No.1“ (1947). Eine Vielfalt, von der heute nur noch eine Ahnung bleibt.

Dass Gockells Überblick auch zu Verkürzung und Verflachung neigt, wird im DDR-Kapitel deutlich. Sicher war es ein Glücksfall, mit Kurt Weiler einen Gesprächspartner gefunden zu haben, dessen Vita von der englischen Emigration bis zum freiwilligen Ausscheiden aus der Festanstellung beim kindertümelnden DEFA-Trickfilmstudio voller Brüche und Konsequenzen ist. Andererseits bleibt von einem Mann wie Bruno J. Böttge, der die Traditionen der Silhouette à la Reiniger pflegte, nur noch eine politische Äußerung übrig: Seine Arbeiten seien „politische Manifestationen gegen die alles zersetzende amerikanische Kulturbarbarei“. Mit einem solchen zeitbedingt dummen Satz wird man weder ihm noch der DEFA gerecht, die fast ausschließlich mit einer Sequenz aus einem propagandistischen Opus namens „Sensation des Jahrhunderts“ (1960) präsent ist. „Muratti & Sarotti“ endet mit dem Kapitel „Trickfilmstudios im Wirtschaftswunder“, mit Fischerkoesen, Diehl und Gerhard Fieber, dessen Wilhelm-Busch-Adaption „Tobias Knopp – Abenteuer eines Junggesellen“ (1948) in den Kinos wenig Erfolg beschieden war, weil zeitgleich die farbigen Disney-Klassiker liefen. Als die westdeutschen Animationskünstler fast nur noch für die Werbung arbeiteten und „in Konfektion“ (Fieber) erstarrten, erinnerten sich einige junge Leute an die avantgardistischen Anfänge. So ist als eines der letzten Zitate der Vorspann zum „NDR-filmclub“ (1964) zu sehen, den Helmut Herbst als Hommage an Fischinger, Ruttmann und die Stammväter eines „anderen Kinos“ gestaltete.
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