Septembersturm

- | Türkei 2000 | 100 Minuten

Regie: Atif Yilmaz

Ein fünfjähriger Junge muss im Herbst 1980 nach dem Militärputsch in der Türkei erleben, wie seine Familie Terror und Willkür ausgeliefert ist. Seine Mutter flieht nach Deutschland, wo auch er 14 Jahre lang Asyl findet. Ein engagierter Film, der jedoch nicht politisches Pamphlet sein will, sondern die Zustände in der Seele des Kindes spiegelt, dem zugestanden wird, auch in finsterer Zeit Kind sein zu dürfen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
EYLÜL FIRTINASI
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
2000
Produktionsfirma
Delta Film/Ulus Müzik
Regie
Atif Yilmaz
Buch
Gaxe Boralioglu
Kamera
Erdal Kahraman
Musik
Tamer Çiray
Schnitt
Mevlüt Koçak
Darsteller
Tarik Akan (Hüseyin Efe) · Zaza (Ayten) · Kutay Özcan (Metin) · Deniz Türkali · Hazim Körmükcü
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.

Diskussion
Manchmal geschehen noch Zeichen und Wunder: In einer Zeit immer stromlinienförmiger und gleichartiger Filme und Verleihpraktiken hat ein winziger Nürnberger Verleih den Mut, einen politisch äußerst engagierten Film der deutsch-türkischen Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen, der gleich in mehrfacher Weise unter die Haut geht. „Septembersturm“ für die deutschen Kinos zur Verfügung zu stellen, hat in Tat mit Engagement zu tun und nichts mit wirtschaftlichem Kalkül, das deutsche Großverleiher in letzter Zeit dazu drängte, mit wenig Geld und ohne sonderliche Sorgfalt türkische Klamotten in die Kinos zu bringen, mit denen in Ballungsgebieten Profit gemacht werden kann. Im vorliegenden Fall ist in der Tat Schluss mit lustig. Regisseur Atif Yilmaz erzählt die Geschichte des fünfjährigen Metin, der im September 1980 eine Nacht in der Zelle seiner inhaftierten und gefolterten Mutter verbringen darf. Danach nimmt der Großvater das verstörte Kind mit auf seine Heimatinsel in der Ägais, wo es langsam in ein gleichförmiges, kindgerechtes Leben zurückfindet, doch immer wieder von der Gegenwart eingeholt wird, denn schließlich regieren nach einem Putsch die Militärs die Türkei und überziehen das Land mit beispiellosem Terror. So sind die Kindertage in den Weinbergen das kleinen Dorfs, deren herbstliche Färbung als Sinnbild für Schönheit und Heimat gelten darf, immer wieder durch die Ahnung des Terrors getrübt. Als die Mutter aus dem Gefängnis entlassen wird und nach schweren Misshandlungen zu ihrer Familie kommt, ist die Welt für Metin nur in Bruchteilen im Lot; schließlich gilt es, sich Sorgen um den untergetauchten Vater zu machen, der bald verhaftet werden und unter der Folter zerbrechen wird; da sind Onkel Sadik, der sich liebevoll auf den kleinen Jungen einlässt und eines Tages verschleppt wird, die geliebte Großmutter, deren Herz in Folge der Ereignisse bricht, und letztlich Großvater Efe, der angesichts des großen politischen Drucks über eine kleine gewaltsame Lösung nachdenkt, die allerdings nur einen Handlanger des Regimes treffen und nichts ändern würde. Als die Lage immer bedrohlicher wird und die Mutter mit einem erneuten Gefängnisaufenthalt rechnen muss, flieht sie nach Deutschland, wo schon andere Familienangehörige Asyl gefunden haben. Sie lässt Metin nachholen, der erst 14 Jahre später seine Heimat wieder sehen wird und an den Gräbern seiner Großeltern sein junges Leben überdenkt. Natürlich macht ein politisch korrekter Standpunkt noch längst keinen guten Film aus; dieser Kritik muss sich auch „Septembersturm“ stellen, der mit recht flachen Bildern und teilweise einer eher folkloristisch gefärbten Idylle aufwartet. Dennoch überzeugt Yilmaz’ Film durch sein aufrechtes Anliegen, das eines der düstersten Kapitel der jüngeren türkischen Geschichte beschreibt, und durch seine spezielle Erzählperspektive, die das Geschehen in den Augen eines fünfjährigen Jungen spiegelt. Der besondere Kunstgriff besteht darin, dass der kleine Metin nicht pausenlos mit den Schrecken des Terrors konfrontiert wird, sondern durchaus Kind sein darf. Er kann kindgemäß die Freuden des Alltags genießen, scheinbar grundlos lachen, glücklich mit den Großvater angeln; doch für den Zuschauer wird deutlich, wie sehr die Seele dieses kleinen Menschen belastet ist, wie angestrengt er darum kämpft, Kind bleiben zu dürfen, auch wenn alle Lebensumstände diesem Bedürfnis entgegenwirken. Durch diese kluge Dramaturgie, die kindliche Lebensfreude in Zeiten politischer Willkür durchaus ernst nimmt, entstand ein ebenso poetischer wie engagierter Film, dessen Stellenwert nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Er setzt damit eine hierzulande fast in Vergessenheit geratene Tradition des türkischen Films fort: engagiertes und parteiliches Erzählen aus der Sicht des unterdrückten Volkes. So ist es gewiss kein Zufall, dass Atif Yilmaz die Rolle des Großvaters Efe mit Tarik Akan besetzte, jenem Darsteller, der in „Die Herde“ (fd 22 228) und in „Yol - Der Weg“ (fd 23 758), den Filmen des unvergessenen, 1984 im Pariser Exil gestorbenen Regisseurs Yilmaz Güney die (klassen-)kämpferischen Hautprollen spielte. „Septembersturm“ kommt als untertitelte Originalfassung in die Kinos, was niemanden daran hindern sollte, sich diesen Film jenseits allen Mainstreams anzusehen.
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