Der Traum ist aus - Die Erben der Scherben

- | Deutschland 2001 | 95 Minuten

Regie: Christoph Schuch

Porträt der Berliner Rockgruppe "Ton, Steine, Scherben", die sich Anfang der 70er-Jahre im politischen Kampf engagierte und diesem ungeachtet ihres musikalischen Vermögens ihren Erfolg verdankte. Engagierter Dokumentarfilm, der neben dem Gruppenporträt eine politische Zeitreise unternimmt und Musiker zu Wort kommen lässt, die von der Band nachhaltig beeinflusst wurden. Dabei wird der Verlust an politischem Engagement ebenso deutlich wie der gesellschaftliche Wandel, der sich einer Politisierung weitgehend verweigert. Ein erhellender Film, den die zahlreichen Musikstücke zudem zu einem Vergnügen machen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Avanti Film
Regie
Christoph Schuch
Buch
Christoph Schuch
Kamera
Thomas Schuch
Schnitt
Christoph Schuch · Sven Ritzkowski
Länge
95 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Während die Rolling Stones ihre Sympathie für den Teufel bekundeten und damit ein recht diffuses politisches Lebensgefühl der 70er-Jahre beschworen, ging die Berliner Punk-Band „Ton, Steine, Scherben“ 1970 in die Vollen und propagierte den politischen Ungehorsam: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht!“ Die „Scherben“ und ihr Sänger Rio Reiser betrieben, beeinflusst von der 68er-Bewegung und der Berliner Hausbesetzer-Szene, eine Kulturpolitik der expliziten Einmischung, träumten von einer klassenlosen Gesellschaft und wurden dadurch immer in die Nähe von RAF-Sympathisanten gerückt, was sich nicht nur verkaufshemmend, sondern auch stigmatisierend auswirkte. Die im Eigenverlag herausgebrachten „Scherben“-Platten verkauften sich nur schleppend; trotzdem blieben die „Scherben“ ihren musikalischen wie politischen Überzeugung treu. Auch das Liebeslied „Halt’ dich an deiner Liebe fest“ war nicht irgendein beliebiges Tralalla, sondern Ausdruck eines Zeitgeists, schließlich war auch Sex Politik - zumindest in den 70er-Jahren. Dieser Traum ist ausgeträumt, wird jedoch in Christoph Schuchs wunderbarem Dokumentarfilm noch einmal beschworen. Dabei kommen Weggefährten und Ex-„Scherben“-Mitglieder ebenso zu Wort wie Musiker einer späteren Generation, deren Musik durch die Berliner Rockband geprägt wurde. Glücklicherweise entsteht daraus kein die 70er-Jahre verklärendes Bild, sondern ein vielschichtiges Zeitporträt, das voller Brüche sein muss, weil die Zeit voller Widersprüche war. Dabei muten Aktionen wie „Nikel Pallat zertrümmert bei einer Life-Fernsehsendung einen Tisch mit einem Beil“, nicht nur anarchisch, sondern im zeitlichen Abstand von 30 Jahren auch sonderlich bis komisch an; sie zeigen aber auch, was alles einmal möglich war, wie vehement Protest formuliert und gelebt wurde. 1972 übersiedelte die Band ins nordfriesische Fresenhagen, nachdem in Berlin der Frust wieder einmal mehr hochgekocht war und man bei einem Benefiz-Konzert für notleidende RAF-Anwälte mit Schnittchen abgespeist werden sollte. Doch Christoph Schuch sucht nicht nur den retrospektive Blick auf eine politisierte Kultur, sondern schaut auch nach vorne, und das mit Humor, einer gehörigen Portion Bewunderung und nicht minder viel Kopfschütteln. Die „Erben der Scherben“ kommen zu Wort: Musiker, die zu der Stammformation der „Scherben“ gehörten und nun in anderen Bands spielen, oder solche, die zur Hochzeit von „Ton, Steine Scherben“ gerade mal eine Gitarre halten konnten, heute aber recht erfolgreich ihr Metier betreiben. Dabei wird vieles deutlich: der Vorbildcharakter, den die „Scherben“ nach wie vor für viele deutsche Rockmusiker haben; auch wie sehr sich die Zeiten politisch und gesellschaftlich gewandelt haben, wie der politische Idealismus abhanden gekommen und die Gesellschaft satt geworden ist; dass sich kaum noch jemand die Mühe macht, gegen das System aufzubegehren. Schuchs Film ist nicht nur ein Abgesang auf eine radikale Rockband und ihren 1996 gestorbenen Sänger Rio Reiser, der ironischerweise seinen größten Erfolg als Solist mit dem Spaßlied „König von Deutschland“ verbuchen konnte, sondern auch auf eine Zeit, in der man zwar kein Geld, aber noch Träume hatte. Da nicht nur die „Scherben“ in alten, tontechnisch mitunter schlechten Life-Mitschnitten zu sehen und zu hören sind, sondern auch ihre „Erben“ wie „Element of Crime“, „Die Sterne“, „Tocotronic“, „Dritte Wahl“, „Das Department“ oder „Britta“, die neben musikalischen Kostproben auch viele interessante Statements zum Besten geben, ist der Film von Schuch doch von so etwas wie einem Hoffnungsschimmer durchzogen: Es gibt sie noch, die engagierte deutsche Rockmusik, die mitreißt und deren Texte nicht vom Flachssinn bestimmt sind. „Der Traum ist aus“ ist ein äußerst vielschichtiger Film, weitaus mehr als das Porträt einer Rockgruppe, deren Platten einst kaum jemand kaufen wollten und die heute Kultstatus genießt, vielmehr eine kleine Zeitreise in die jüngste Vergangenheit, in der kämpferisch und zärtlich an politischen Utopien gebastelt wurde. Man müsse die Verhältnisse eben zum Tanzen bringen, glaubten mit Marx und einer ganzen Generation damals auch die „Scherben“.
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