My Brother Tom

- | Großbritannien 2001 | 111 Minuten

Regie: Dom Rotheroe

Eindringlicher Debütfilm, der durch große Unmittelbarkeit überzeugt: Erzählt wird die Geschichte eines jugendlichen Außenseiters und eines Mädchens, das von seinem Lehrer sexuell missbraucht wird. Auch der Junge verbirgt ein dunkles Geheimnis, das ihn psychisch schwer belastet und unberechenbar macht. Gemeinsam schaffen sie sich in einem Wald einen Zufluchtsort und finden jenseits aller Tabus und fast ohne Worte zu inniger Vertrautheit, die immer wieder von außen bedroht wird. Die großartigen Darstellerleistungen fängt die virtuose (Digital-)Kamera in Bildern von großer Intimität ein. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
MY BROTHER TOM
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
W.O.W. Prod./Trijbits Prod.
Regie
Dom Rotheroe
Buch
Dom Rotheroe · Alison Beeton-Hilder
Kamera
Robby Müller
Musik
Annabelle Pangborn
Schnitt
David Charap
Darsteller
Jenna Harrison (Jessica) · Ben Whishaw (Tom) · Honeysuckle Weeks (Sarah) · Michael Erskine (Ian) · Adrian Rawlins (Jack, Jessicas Lehrer)
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Der Wald mit seinen geheimnisvollen Ecken, seiner Unzugänglichkeit und seinem Naturzustand, der einen Gegensatz zur geordneten Zivilisation darstellt, bildet schon in den Märchen und Sagen einen beliebten Topos. Zumeist negativ konnotiert, mit Hexen und Werwölfen bevölkert, oder aber symbolisch assoziiert mit dem verwirrenden Unterbewussten des Menschen, hat er auch in der Welt des Films Einzug gehalten (man denke an Neil Jordans „Die Zeit der Wölfe“, fd 25 000). In Dom Rotheroes Spielfilmdebüt erscheint der Wald am Rande einer Stadt allerdings als Ort der Zuflucht. Was dem jungen, naiven Pärchen in „Die blaue Lagune“ (fd 22 746) der blendende Sandstrand als Urlaubsidylle war, ist Jessica und Tom die düstere, von kaum einem anderen Menschen aufgesuchte Schattenwelt unter den Baumkronen. Denn anders als das zickige Lagunenpärchen haben sie die dunklen Seiten des Daseins längst kennen gelernt; sie kämpfen gegen innere Verzweiflung und dunkle Geheimnisse – und fliehen genau deshalb vor ihrem jeweiligen Zuhause, das eine heile Welt vorgaukelt, aus der sie sich jedoch ausgeschlossen fühlen müssen. Zu dem Zeitpunkt, an dem Jessica den schlaksigen Jungen kennenlernt, hat sie eine tiefgreifende und schwer erschütternde Erfahrung noch vor sich. Dennoch begegnet sie Tom, der ihr eines Tages – von Gleichaltrigen gejagt und als „Psycho“ verspottet – vor die Füße fällt, mit wohlwollender Neugier. Die ungestüme, aber ungeheuer gefühlsbetonte Art des Einzelgängers nimmt sie für ihn ein. Überraschend unbekümmert lässt sie sich von ihm in seine Welt im Wald entführen; doch so richtig nahe kommen sie sich erst, nachdem Jessicas Lehrer die Unschuld des Mädchens für erotische Annäherungen ausgenutzt hat. Auch Tom hat ein dunkles Geheimnis, über das er nie spricht (nur heimlich kommt Jessica diesem Geheimnis auf die Spur). Überhaupt ist Dialoglastigkeit das Letzte, das man Rotheroes Film vorwerfen könnte. Was in Worten an Verletztheit gar nicht ausgedrückt werden kann, suchen sie in einer Rückkehr zu vorsprachlicher Kommunikation: im reinen, fast schon brutalen körperlichen Ausdruck, in zuerst noch unbeholfenen Berührungen, in die nicht nur die Hände, sondern der ganze Körper einbezogen wird. Wie könnte man etwa Toms Zuneigung zu Jessica schöner ins Bild setzen, als in der Szene, wenn sie unter einem Baum schläft und Tom im letzten Moment den Vogelkot, der auf sie zu fallen droht, mit der nackten Hand wegfängt. Auf der anderen Seite steht dann allerdings auch wieder seine unkontrollierbare Bereitschaft zur Gewalt, die sich jedoch mindestens ebenso sehr gegen den eigenen Körper richtet, etwa, wenn er sich einen Dornenkranz fest um die Stirn bindet. Auch in der Neugier, den anderen bis in den letzten Winkel hinein entdecken zu wollen, kennen die Beiden keine Tabus. Nackt toben sie wie Urmenschen durch den Wald, schreien sich die geschundene Seele aus dem Leib, bis man sich als Zuschauer wundert, dass niemand auf sie aufmerksam wird. Sex interessiert sie dabei (zunächst) aus gutem Grund nicht – später erst werden sie sich auch auf solche Gefühle einlassen können, die für die Mehrzahl ihrer Altersgenossen Routine sind, für sie jedoch einem Tanz auf Messers Schneide gleichkommen. Mit seinen großartigen jungen Schauspielern gelingt es Rotheroe, auch in den extremeren Szenen nicht ins Spekulative oder übertrieben Dramatische abzugleiten. Einzig im etwas forcierten und in die Länge gezogenen Schlussviertel kommt es zu etwas aufgesetzt wirkenden Wendungen, die von der intensiven Annäherung der beiden Jugendlichen eher ablenken. Im Übrigen ist nicht zu übersehen, dass Dom Rotheroe vom Dokumentarfilm kommt („A Sarajevo Diary“) und ein Gefühl dafür hat, Szenen von großer Natürlichkeit und Spontanität zu schaffen. Unterstützt wird er dabei von Kameramann Robby Müller, der durch seine Zusammenarbeit mit Wim Wenders und Jim Jarmusch bekannt wurde, für Lars von Trier aber auch bei „Breaking the Waves“ (fd 32 145) und „Dancer in the Dark“ (fd 34 476) für die Bildgestaltung verantwortlich war. Mit der gleichen handlichen Digitalkamera, die er bei „Dancer in the Dark“ verwendete (eine Sony DSR PD-150), ist er auch Jessica und Tom unerhört nah gekommen, ohne durch effektheischendes Bild-Gewackel künstlich dokumentarische Qualitäten suggerieren zu müssen. Völlig zu Recht wurde „My Brother Tom“ wegen einer bemerkenswerten kollektiven Leistung international mit mehreren Auszeichnungen gewürdigt.
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