Martha ... Martha

- | Frankreich 2001 | 97 Minuten

Regie: Sandrine Veysset

Eine junge Frau, Mutter einer etwa siebenjährigen Tochter, die mit ihrem Partner mit dem Verkauf von Second-Hand-Kleidung auf Wochenmärkten den Lebensunterhalt verdient, erlebt eine emotionale Demütigung nach der anderen und verliert zusehends das seelische Gleichgewicht. Als sie vergewaltigt wird, büßt sie vollends den Kontakt zur Wirklichkeit ein. Eine einfühlsame beklemmende Studie mit poetischen Bildern, die zeigt, wie sehr mangelnde Kommunikation und Gefühlskälte das Leben zur Tortur machen können. - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
MARTHA ... MARTHA
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Ognon/CNC/Gimages 6/Le Studio Canal+/Rhône-Alpes Cinéma/arte
Regie
Sandrine Veysset
Buch
Sébastien Regnier · Sandrine Veysset
Kamera
Hélène Louvart
Schnitt
Nelly Quettier
Darsteller
Valérie Donzelli (Martha) · Yann Goven (Reymond) · Lucie Régnier (Lise) · Lydia Andrei (Marie) · Séverine Vincent (Michèle)
Länge
97 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Diskussion
Filme, die grausam und poetisch zugleich sind, wenn es darum geht, menschliche Gefühle darzustellen, waren einst eine Spezialität von Regisseuren wie Robert Bresson, Carl Theodor Dreyer oder Ingmar Bergman. Fast noch eine Spur beiläufiger erzählt Sandrine Veysset (Jhrg. 1967) ihre Geschichten von labilen Charakteren und Familien, in denen über vieles hinweg geschwiegen wird. Ihr dritter Film „Martha ... Martha“ beginnt zwar mit versöhnlichen Bildern eines Bauernhauses irgendwo auf dem Land, aber Martha, eine Frau Mitte 20, die ihre Eltern besucht, hält weder das lange Schweigen beim Essen noch das geheuchelte Interesse des Vaters an ihrem Leben und die anderen Demütigungen – ihre an Alzheimer leidende Mutter verwechselt sie mit ihrer Schwester, die reich geheiratet hat – lange aus. Wütend verlässt sie das Haus, um schnell wieder zu ihrer kleinen, aber harmonischen Welt zurückzukehren: zu ihrer etwa siebenjährigen Tochter Lise, einem blonden Engel, und ihrem Lebensgefährten Reymond. Zusammen verdienen sie auf Wochenmärkten ihren Lebensunterhalt, indem sie Second-Hand-Klamotten verkaufen. Manchmal, wenn die drei gemeinsam im Bett liegen oder in ihrem blau-roten alten Transporter über Land fahren, sind sie wirklich glücklich, lachen und genügen sich selbst. Aber es dauert nicht lange und Reymond kritisiert Martha, weil sie wieder raucht oder sich nicht genug um Lise kümmert. Martha schweigt – wie sie das von ihren Eltern kennt – und reagiert sich lieber abends allein in der Kneipe beim Videospiel ab. Sie ist es auch, die nach mehreren Misserfolgen auf Märkten vorschlägt, lieber ins sonnige Spanien zu ihrer Schwester Marie zu fahren. Die ist zwar nicht begeistert, Martha zu sehen, lässt die drei aber bei sich und ihrem Ehemann in dem schönen großen Haus am Meer wohnen. Während Maries Mann mehr über die vorher nie erwähnte Schwester wissen will, sorgt Marie, die vor Martha Angst hat, indirekt dafür, dass es zu einem Streit kommt, und nötigt Martha abzureisen. Wieder frisst Martha alles in sich herein, verliert diesmal aber ihr seelisches Gleichgewicht völlig. Tagträumerisch versinkt sie in einer anderen Welt, registriert nicht einmal, dass Lise im nahen Fluss badet und fast ertrinkt. Zum Glück kommt Reymond rechtzeitig, um Lise zu retten – und Martha ergreift wieder die Flucht. Diesmal in eine Disco, wo sie sich betrunken von zwei Männern abschleppen lässt, die sie vergewaltigen. Davon ahnt Reymond nichts: Martha kommt nicht nach Hause zurück. Erst nach einer Weile erfahren er und Lise, die nun auch kaum noch spricht, dass Martha im Krankenhaus liegt und nicht mehr weiß, wer sie ist. Zwar erkennt sie Lise und Reymond, aber wieder zuhause erstickt sie Lise beim Spielen fast mit einem Kopfkissen. Martha weiß nichts mehr mit ihrem Leben anzufangen. Schließlich sieht man, wie sie nachts in einen nahen Fluss geht und nicht mehr auftaucht. Aber das könnte genauso gut ein Albtraum sein wie die Vision, die Lise hat: Alle ihre Stofftiere treiben blutend auf dem Wasser. Auch wenn der Schluss offen bleibt – ein Happy End ist nicht zu erwarten, das macht das ebenso einfache wie wirkungsvolle Schlussbild klar: eine ruhige Landschaft ohne Menschen – genau wie die erste Einstellung des Films. „Martha ... Martha“ wirkt über weite Strecken dokumentarisch, so natürlich und eindringlich zugleich ist der Alltag der jungen Familie gefilmt, die ähnlich wie die Blumenkinder in den 60er-Jahren sich selbst genügen will und in den Tag hinein leben. Veysset filmt die kleinen Freuden wie die vielen Enttäuschungen in gefühlsbetonten, manchmal fast schon zu schönen Bildern und plakativen Gesten und Umarmungen. Auch wenn Martha und Reymond einander sagen, dass sie sich lieben: Küsse und andere Intimitäten sieht man kaum, dazu leben die drei Protagonisten doch zu sehr neben- als miteinander. Vor allen Dingen sprechen sie kaum über ihre wahren Probleme – wohl auch, weil sie sich ihrer nicht bewusst sind oder sie bewusst verdrängen, aus Angst, dass noch Schlimmeres geschehen könnte. So erzählt Martha gerne allen die Geschichte von einer Frau, die sich und ihre Tochter umbrachte, indem sie aus dem siebten Stock sprang, und hüllt sich über ihre eigenen Todesfantasien in Schweigen. Das macht es einem nicht einfach, diese komplizierte Frauenfigur zu verstehen, aber man spürt schnell, dass es nicht weit sein kann bis zum nächsten emotionalen Abgrund, zumal Sandrine Veysset immer eine gewisse Distanz zu ihren Figuren einnimmt. Es gibt keine Stars in diesem Film, nur unbekannte junge Darsteller. Aber Valérie Donzelli als Martha, Lucie Régnier als Lise und Yann Goven als Reymond, ohne den die Familie schon längst auseinander gefallen wäre, geben der inneren Zerrissenheit der Figuren so viel Glaubwürdigkeit, dass man ihre Gesichter nicht so schnell vergisst.
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