Hejar - Großer Mann, kleine Liebe

- | Türkei/Griechenland/Ungarn 2001 | 120 Minuten

Regie: Handan Ipekçi

Ein kurdisches Waisenmädchen und ein ebenso prinzipientreuer wie halsstarriger pensionierter türkischer Richter nähern sich in einer Konfliktsituation trotz Sprachschwierigkeiten an und entwickeln Verständnis füreinander, wobei der größere Lernprozess auf der Seite des alten Mannes liegt. Ein ergreifendes Plädoyer für Versöhnung, das zwar nicht ganz frei von Klischees und Stereotypen ist, in seiner humanitären Aussage aber nicht genug gewürdigt werden kann. Mit seiner leisen Geschichte lässt sich der mutige Film auf einen konfliktreichen politischen Kontext ein. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
BÜYÜK ADAM KÜCÜK ASK
Produktionsland
Türkei/Griechenland/Ungarn
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
Yeni Yapim Film/Hyperion/Tivoli/Focus Film
Regie
Handan Ipekçi
Buch
Handan Ipekçi
Kamera
Erdal Kahraman
Musik
Serdar Yalcin
Schnitt
Nikos Kanakis
Darsteller
Dilan Ercetin (Hejar) · Sükran Güngör (Rifat Bey) · Füsun Demirel (Sakine) · Yildiz Kenter (Müzeyyen Hanim) · Ismail Hakki Sen (Evdo Emmi)
Länge
120 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Ein kleines Mädchen im traditionellen ländlichen Kleid, bei dem die Hosen unter dem Rock getragen werden, blickt sich mit traurigen, fast trotzigen Augen um. Hejar ist Kurdin, ein sechsjähriges Kind aus einem Volk, das es über lange Jahre und Jahrzehnte im offiziellen Sprachgebrauch Ankaras nicht gab. „Bergtürken“ hießen die Kurden – und wenn es keine Kurden gab, so gab es folglich auch keine kurdische Kultur und Sprache. Während der westliche Teil der Türkei die Kurden mit Polizeigewalt und Militär unterdrückte, gab es im türkischen Teil Kurdistans Dörfer, in denen die türkische Sprache als jene der Besatzer schlecht oder gar nicht gesprochen wurde. So ist das zentrale Thema des Films die Ignoranz der Türken und die nicht selbstverschuldete kulturelle Unmündigkeit der Kurden, dargestellt an einer faszinierenden Geschichte: der Annäherung des kurdischen Mädchens und eines pensionierten, an der Starre seiner lebenslangen Prinzipien versteinerten türkischen Richters. Eine einfache Geschichte, mit der die junge türkische Regisseurin eine tiefe Kluft zwischen zwei Völkern auf den Punkt bringt. Die kleine Hejar ist in einer neuen, ihr völlig unbekannten Welt angekommen. Bei einer Militäraktion der türkischen Armee hat sie ihre Eltern verloren, woraufhin sie der Dorfälteste aus der Krisenregion nach Westen brachte – in die Metropole Istanbul, Symbol für die moderne türkische Gesellschaft und Zufluchtsort für viele aus dem Osten der Türkei, die hier Arbeit, Wohlstand oder einfach nur Frieden und ein angstfreies Leben suchen. Hejar aber wird schnell vom blutigen Konflikt ihrer Heimat eingeholt. Die modern und europäisch wirkende Wohnung, die ihr Zuflucht gewähren sollte, wird von einer Anti-Terroreinheit der Polizei gestürmt. Die Frau versucht, die drei Kurden vom Gebrauch ihrer Waffen abzuhalten; es kommt zum Schusswechsel, und ein Polizist erschießt die schwerverletzte Frau. Hejar wird von der Polizei gar nicht wahrgenommen, und fast traumwandlerisch verlässt das Kind den Ort des Geschehens, während sich die Polizisten auf die Lauer legen, um weitere „Terroristen“ zu stellen. In der Wohnung gegenüber wohnt der pensionierte Richter Rifat, ein alter Mann, der in der Einsamkeit noch unbeweglicher geworden ist, eingepfercht zwischen seinen Gesetzeskommentaren und den Prinzipien eines langen Beamtenlebens. Wie ein Wesen von einem anderen Stern steht das blutbespritzte Mädchen vor ihm – trotzig, traurig und verstört. Mit seinem Eintritt in das Leben des alten Richters beginnt eine tragikomische Kette des Nichtverstehens; denn Hejar versteht kein Wort Türkisch, und Rifat, überzeugter Anhänger des Kemalismus, kein Wort Kurdisch. So prallen zwei sehr dickköpfige Charaktere aufeinander mit bösen, bedrohenden und beleidigenden Ausdrücken, die für das jeweilige Gegenüber keinen Sinn ergeben. Zur Vermittlerin wird Rifats Putzfrau, die zum Entsetzen des Alten nicht nur Kurdisch versteht, sondern auch spricht. Während ihm unverständliche kurdische Worte gewechselt werden, ändert sich langsam seine Sicht auf die Welt: Rifat erfährt die Vielschichtigkeit, die ihn umgibt. Immer aber verspürt er auch Wut auf das Kind, das seine sorgsam gehüteten Werte des türkischen Nationalismus durcheinanderbringt; immer wieder gerät er in Versuchung, die Sondereinheit der Polizei anzurufen und das Mädchen der Staatsgewalt zu übergeben. Doch zwischen Zorn und Sprachlosigkeit kommen sich die beiden näher – der Alte lernt seine ersten kurdischen Worte, das Kind seine ersten türkischen; allmählich entwickelt sich Verständnis zwischen ihnen, und der alte Richter macht sich in den Vorstädten Istanbuls auf die Suche nach Hejars Angehörigen. In der Grundkonstellation erinnert der Film an Werke wie Walter Salles’ „Central Station“ (fd 33 459), ebenfalls eine Annäherung einer vereinsamten Großeltern- an die rebellische Enkelgeneration, die mit einer Suche nach den Wurzeln des Kindes verbunden ist. Darüber hinaus gehend, bettet Handan Ipekci die Geschichte aber auch in einen konfliktreichen politischen Kontext ein. „Hejar“ ist kein kurdischer Film, die Regisseurin richtet sich in erster Linie an ein liberales, politisch aufgeschlossenes türkisches Publikum. Hier verkörpert der pensionierte Richter die Ideale des Kemalismus, die Idee, auf türkischem Boden eine freiheitliche demokratische Gesellschaft aufzubauen – freilich für den Preis eines rigorosen Nationalismus, der andere Volksgruppen mit Polizei und militärischer Gewalt die Entwicklung einer nationalen Minderheitenkultur untersagt, zugleich aber den prinzipientreuen Staatsbürger argwöhnisch im Auge behält, dem mafiöse Strukturen, Korruption und Polizeiübergriffe längst zuwider sind. Demgegenüber erscheint die Darstellung der Kurden reduziert, weniger komplex, was aber auch den Stereotypen der Zielgruppe entspricht; denn das Mädchen verkörpert auf ganz beeindruckende Weise den Unruhefaktor, der den Richter zum Umdenken bringt. Insgesamt bedient die Darstellung der Kurden doch viele Klischees von den Bergbewohnern, die in archaischen Strukturen stehen geblieben sind, bis zu den zu allem entschlossenen Terroristen, wobei der türkischen Seite ein großes Maß an Versagen zugeteilt wird. Für die Türkei ist „Hejar“ ein wichtiger und mutiger Film, der den schwierigen Weg der türkischen Gesellschaft spiegelt – eine Balance zwischen Tauwetter und der nach wie vor präsenten Repression anderer Ethnien. Ein Film, der auf traurige Weise zum rechten Zeitpunkt in unsere Kinos kommt, wenn durch den Irak-Krieg auch die Kurdenfrage wieder für Schlagzeilen sorgt: ein vorsichtiges, aber zutiefst menschliches und ergreifend inszeniertes Plädoyer für die Versöhnung zwischen zwei verfeindeten, sich gegenseitig ignorierenden Völkern.
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