- | Russland/Deutschland 2002 | 99 Minuten

Regie: Alexander Sokurow

Ein Gang durch die 35 Säle der St. Petersburger Eremitage, bei dem die fantastische Kunstsammlung vorgestellt und 300 Jahre russischer Geschichte lebendig werden. Der opulente Bilderbogen verknüpft die Erinnerung an eine große Vergangenheit mit der Hoffnung auf die Zukunft. Eigentlicher Star des Films ist eine 90-minütige Steadycam-Aufnahme, die ohne einen einzigen Zwischenschnitt eine Vergegenwärtigung von Kunst und Historie ermöglicht. Alexander Sokurows hochambitioniertes Filmexperiment bietet im Gegensatz zu seinen früheren, eher asketischen Bilderwelten fast operettenhaftes Kino. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
RUSSKIJ KOVCHEG
Produktionsland
Russland/Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Fora/The Hermitage Bridge Studio/Egoli Tossell
Regie
Alexander Sokurow
Buch
Boris Chaimski · Anatoli Nikiforow · Swetlana Proskurina · Alexander Sokurow
Kamera
Tilman Büttner
Musik
Sergej Jewtuschenko
Schnitt
Stefan Ciupek · Sergej Iwanow · Bettina Kuntzsch
Darsteller
Sergej Dreiden (Marquis de Custine) · Maria Kuznezowa (Katharina die Große) · Leonid Mosgowoi (Spion) · Michail Piotrowski (Direktor der Erimetage) · David Giorgobiani (Orbeli)
Länge
99 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Die Extras der Special Edition umfassen u.a. einen (englischen) Audiokommentar des Produzenten Jens Meurer, eine umfangreiche und informative Dokumentation zum Film (44 Min.) von Knut Elstermann, die Dokumentation "Mon Paradis - Der Winterpalast" von Elfi Mikesch (48 Min.) sowie Drehskizzen des Kameramanns Tilman Büttner.

Verleih DVD
Egoli Tossell/Al!ive & Trigon (16:9, 1.78:1, DD5.1 russ./dt.)
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Diskussion
Ein schwarzgekleideter Fremder, ein französischer Marquis des 18. Jahrhunderts, wandelt durch die 35 Säle der Petersburger Eremitage des ehemaligen Zarenpalais mit ihrer fantastischen Sammlung vor allem westeuropäischer Gemälde und Kunst. Er begegnet hier Menschen aus drei Jahrhunderten – darunter Peter dem Großen und Katherina der Großen, aber auch Museumsbesuchern der Gegenwart. Er beobachtet, kommentiert, lässt sich auf Gespräche ein und tanzt sogar auf glänzenden Hofbällen mit. Widerpart seiner bewundernden, zuweilen aber auch snobistischen westeuropäischen Kommentare ist die Off-Stimme des Regisseurs Sokurow höchstpersönlich, die darauf beharrt, dass Russland erheblich mehr ist als nur eine Imitation des Westens: Glinka ist eben doch ein russischer und nicht etwa „irgendein deutscher Komponist“, und die heutigen Russen können schließlich nichts dafür, dass sie das Evangelium und die Apostel Peter und Paul nicht kennen, vor deren Museumsbild Marquis de Custine in die Knie geht. Das Museum entdeckte Alexander Sokurow schon in „Kamen“ („Kamen – Der Stein“, 1992) als einen Ort reanimierter Vergangenheit. Auch in „Robert. Scastlivaja zizn’“ („Robert. Ein Glückliches Leben“, 1996) hatte er am Beispiel Hubert Roberts, des Malers antiker Ruinenlandschaften, schon einmal auf die Schätze der Petersburger Eremitage aufmerksam gemacht. Selbst das im Filmtitel angesprochene Motiv der Arche findet sich bereits in Sokurows „Gramvolle Gefühllosigkeit“ („Skorbnoe bezcuvstvie“, 1983), einer masochistischen Apokalypse nach Motiven von George B. Shaws „A Heartbreaks House“ („Haus Herzenstod“), die 1987 bei der „Berlinale“ noch auf Befremden und Unverständnis gestoßen war. Ganz anders nunmehr das Echo auf „Russian Ark“, der nicht nur – wie zuvor bereits „Moloch“ (fd 34 089) und „Taurus“ – in den Wettbewerb von Cannes gelangte, sondern jetzt auch in die deutschen Kinos kommt. „Russian Ark“ enstand mit einem Etat von 30 Mio. Euro als europäische Co-Produktion und wird mit einer sonst nur bei Hollywood-Produktionen üblichen Pressekampagne der Superlative angepriesen: 50 Maskenbildner verwandelten 1500 Menschen zu Zeitzeugen der 300-jährigen Petersburger Geschichte; ein Stardirigent – Valerie Gergiev – flog für einen einzigen Drehtag aus New York ein; gedreht wurde der Film von dem aus der Reklame kommenden und durch die Steadycam-Aufnahmen von „Lola rennt“ (fd 33 256) bekannt gewordenen deutschen Kameramann Tilman Büttner mit einer immer wieder als Sensation herausgestellten technischen Innovation: 90 Minuten in einer einzigen Einstellung, ohne irgendeinen Schnitt. Möglich wurde diese „längste Steadycam-Einstellung der Welt“, also das, was Hitchcock und Altman mit traditioneller Kameratechnik nicht schafften, durch acht zu einem „Rucksackgerüst“ montierten Festplatten – was als ein „neues Kapitel der Filmgeschichte“ angepriesen wird. Der bisher als „schwieriger, introvertierter Melancholiker“ geltende Sokurow scheint den Durchbruch in eine Welt geschafft zu haben, die er bisher eher mit Verachtung strafte. Immer wieder hatte er seine Gleichgültigkeit gegenüber breiterer Publikumsakzeptanz und Festivalehren betont, anfänglich sogar darauf bestanden, als russischer Regisseur nur russische Filme zu produzieren (obwohl er dann einige seiner besten Filme gerade mit der deutschen Produktionsfirma zero Film schuf). Sicher kokettiert Sokurow hier auch mit seiner Eigenliebe: Als „Russian Ark“ nicht den „Europäischen Filmpreis“ erhielt, soll er darauf mit zornigen Worte über die „mangelnde Spiritualität des Westens“ reagiert haben. Doch lenken nicht gerade die opulenten Bilder der Eremitage, der Kostüme und Maskenbälle, die Sokurows asketisches Schwarz-Weiß ablösende Farbenpracht und ein Feuerwerk ironisch-spielerischer Gesten und Dialoge (hier gibt es sogar die Szene einer dringend nach einer Toilette suchenden Zarin Katherina der Großen) nicht gerade von dieser sicher auch hier noch intendierten Spiritualität ab? Um die spirituelle Dimension des Films zu entdecken, muss man sich intensiver auf ihn einlassen. Die „Russische Arche“ ist ein Film der Zwischentöne, in dem die Orchestrierung der Intonationen eine besondere Rolle spielt (leider ging hiervon in der deutschen Synchronisierung sehr viel verloren). Aus dem Off heraus vertieft die auktoriale Stimme des Regisseurs mit akzentuierenden Intonationen die Imaginationen des Sichtbargemachten emotional wie konkret-sachlich, koorigiert die fremde Sicht des französischen Marqius und beharrt auch emotional immer wieder auf dem spezifisch Russischen. In dieser Weise wird der Film zu einem russisch-westeuropäischen Dialog, wird der Blick zurück in die reanimierten Bilder der Vergangenheit zu einer Erinnerung an die vergessenen Wurzeln, was angesichts der noch immer nicht bewältigten russischen Identitätssuche nach dem Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums sicher auch ein „Blick nach vorn“ ist. Sokurows insistierendes Interesse für die in die Dinge eingeschriebenen Spuren der Zeit, für assoziative Imaginationen der unsichtbaren Innenperspektive kommt durchaus auch zeitgenössischen Interessen entgegen: dem in diesem Jahr gefeierten 300-jährigen Stadtjubiläum St. Peterburgs, das nach all den Elendsbildern endlich einmal an ein anderes, glanzvolles Russland erinnern soll – an die von Peter dem Großen mitten im Sumpfgelände errichtete europäische Metropole. So etwas schätzt Putin, der dem Regisseur vor zwei Jahren persönlich zu dessen 50. Geburtstag gratulierte, ebenso wie die „große, weite Kinowelt“ des Westens mit ihrer Vorliebe für opulent inszenierte Show-Welten. Bleibt die Hoffnung, dass dabei dennoch auch etwas von Sokurows Nachdenken über das Ineinander von Russlands Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrgenommen wird.
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