- | Deutschland 2002 | 93 Minuten

Regie: Konstantin Faigle

Dokumentarisch-experimentelles Essay über die Kindheit und Jugend des Filmemachers, der in einem Gemischtwarenladen in der schwäbischen Provinz aufwuchs. Dabei geht es sowohl um die individuelle Biografie als auch um die Geschichte seiner Familie, wobei die rhapsodische Struktur auch surreal-burleske Elemente, Träume und Fantasien umfasst. Eine einfallsreiche, extrem detail- und subtextreiche Erkundung, die unterhaltsam ein Stück bundesdeutscher Wirklichkeit erschließt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Kick Film/KHM
Regie
Konstantin Faigle
Buch
Konstantin Faigle
Kamera
Michael Pfizenmaier · Roland Bauer
Schnitt
Gabi Kull-Neujahr · Konstantin Faigle
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
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Diskussion
Mit angehaltenem Atem schleicht die Kamera durchs nächtliche Labyrinth der Versuchung. Ein kleiner Lichtstrahl hüpft von einem Behältnis zum nächsten, in denen lauter Süßigkeiten lagern, hebt kleine Inseln einer geheimnisvollen Warenwelt hervor, deren Düfte in der Nase kitzeln. „Ich bin ein Ladenkind“, flüstert Regisseur Konstantin Faigle (Jahrgang 1971) aus dem Off, „groß geworden zwischen Brühwürfeln, Stecknadeln und alten Bananen.“ Hier, inmitten ungezählter Gläser, Schachteln, Kisten, Rollen, Steigen, die bis unter den Dachfirst reichen, hatte er seine Kindheit und Jugend verbracht, in einem ländlichen Gemischtwarenladen mitten im Schwarzwald. Für ihn ist das ein Stück seiner Vergangenheit, der er mit filmischen Mittel habhaft zu werden versucht; für andere, seine Eltern beispielsweise, reicht das „Edeka“-Universum bis in die nahe Gegenwart. Der weiß-blaue Wecker am Bett seines Vaters zeigt 5.35 Uhr, wenn bayerische Blasmusik erklingt. „Fine“, ruft dieser seiner Frau zu, „‘s isch Zeit.“ Wenig später schließt er die Ladentür auf, wo bereits der erste Kunde wartet. Der seltsame Singsang der Männer ist glücklicherweise untertitelt, weshalb man jene Mischung aus Vertrautheit, Distanz und Klischees verstehen kann, die für dörfliche Verhältnisse so typisch ist. Inzwischen ist auch der Kater Peterle aufgetaucht, der hungrig zwischen den Regalen umher streicht, und bald nimmt auch Faigles Vater im blauen Arbeitsmantel am Frühstückstisch Platz. Seit vier Generationen betreibt die Familie den Laden, der sich mit den Jahren und unter dem Logo der Edeka-Kette zu einem kleinen Kaufhaus mauserte, in dem es nahezu alles gibt: Lebensmittel, Spirituosen, Kosmetik, Textilien, den „Playboy“ und – einer lokalen Tradition entsprechend – auch eine eigene Karnevalsabteilung. Betriebswirtschaftlich macht das schon lange keinen Sinn mehr, weil Discounter wie Lidl oder Penny auch die schwäbische Provinz erobert haben. Doch wenn man wie Faigles Vater 30 Jahre lang an sechs Tagen in der Woche hinter der Kasse stand und viele Kunden beim Namen kennt, fällt das Aufhören schwer. Es bedurfte erst eines Einschnitts wie der Euro-Einführung, um Faigles Eltern schließlich doch schweren Herzens und um den Preis tiefer Depressionen in den Ruhestand zu schicken. Obwohl diese Zäsur der äußere Anlass für „Out of Edeka“ war, ist der Film alles andere als ein putziges Porträt verblichener Tante-Emma-Seligkeit. Die ungeschminkten Ich-Einlassungen des Regisseurs deuten bereits darauf hin, dass es sich hier um mehr als die dokumentarische Erkundung eines vertrauten Terrains handeln muss. Ob man deshalb gleich zu einem Wortungetüm wie „Dokudramarealitysoap“ greifen muss, mit dem Faigle alle puristischen Einwände im Handstreich entwerten will, sei dahin gestellt; die hybride Form dieser vor Kreativität und Einfallsreichtum sprühenden, wenn auch gewöhnungsbedürftigen Arbeit aber bleibt nicht lange verborgen. Hat man die ersten Stilbrüche und akustischen Dissonanzen erst einmal verdaut, findet man sich in einer extrem detail- und subtextreichen Wirklichkeitserkundung wieder, hinter deren ausgewilderter Form die Struktur des Gemischtwarenladens zum Vorschein kommt: ein verwirrend buntes, unüberschaubares Ensemble disparater Momente, Figuren, Erlebnisse und Erinnerungen, das nach dem „Besitzer“ verlangt, wenn man seine Ordnung verstehen oder sich zurecht finden will. Vor dieser Rolle scheut Konstantin Faigle so wenig zurück, dass man den Filmemacher gelegentlich vor sich selbst in Schutz nehmen will, wenn er bei seiner „exotischen Reise“ in seine Vergangenheit und die seiner Familie scheinbar keine Grenzen kennt. So erfährt man nicht nur, dass er ständig neue „Weiber“ nach Hause geschleppt habe, oder lernt seine kleine Tochter Mariami kennen, die bei ihrer Mutter in Tiblisi, Georgien, lebt; auch die frühe Lust des Filmemachers an Verkleidungen oder üppigen Formen des Weiblichen wird drastisch-unverblümt in Szene gesetzt. Weil sich Faigle dabei aber nie in Details verliert, sondern unbekümmert zwischen den Ebenen springt und auch burleske Träume oder surreal-persönliche Angstfantasien mit einbezieht, bleiben die Grenzen fließend wie in einem Essay, nur dass dessen Bestandteile hier weitgehend dokumentarischen Ansprüchen genügen – auch wenn nahezu jede Szene für die Kamera (re-)inszeniert wurde. Was „Out of Edeka“ so spannend macht, ist weniger die individuelle Geschichte einer schwäbischen Kleinfamilie aus einem 3.500-Einwohner-Dorf; vielmehr sind es die zahllosen Verknüpfungen mit zeitgeschichtlichen Phänomenen, von denen Faigle einige benennt. So rekonstruiert er mit wenigen, präzisen Konturen die Geschichte seiner Familie bis zurück in die Schützengräben von Verdun und streift verschiedentlich Fragen nach den Folgen politisch-gesellschaftlicher Gewalt; konkret beispielsweise im Alkoholismus des Vaters oder seiner eigenen Rebellion, die ihn als Zwölfjährigen in die Kinderpsychiatrie führte, weil er auf 23 Kilo abgemagert war. Für den Katholizismus hat er eingedenk negativer Erfahrungen wenig übrig, für den „Gott der Arbeit“, dem im näheren wie weiteren Umfeld zwanghaft das ganze Leben geopfert wird, entwickelt er überraschend viel Gespür. Auch die psychische Dynamik innerhalb seiner Familie klingt an; ein rätselndes Staunen darüber, warum ihm in Gegensatz zu seinen Geschwistern der Ausbruch aus den engen Verhältnissen gelang. Die Gratwanderung zwischen subjektiver Bedeutung und öffentlicher Relevanz glückt Faigle, weil er durch das Sujet des Gemischtwarenladens eine sinnliche Metapher für die offenen Struktur des Films gefunden hat, der die zahllosen Einzelelemente nicht unter Begriffe oder Themen zwingt, aber dennoch zusammen hält. Davon profitiert nicht zuletzt auch eine große Freiheit in der visuellen Gestaltung, deren enorme Bandbreite den Unterhaltungswert ebenso steigert wie Faigles Faible für Verrücktheiten: In einer Art Coda steckt er seine Eltern in eine Guerilla-Kampfkluft und lässt sie abtrünnigen Kunden mit Waffengewalt zu Leibe rücken. Wahrscheinlich kann er ihnen seine „Real-Komödie“ deshalb auch als eigenwillige Liebeserklärung widmen.
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