Vom Westen unberührt

Drama | Frankreich 2002 | 104 Minuten

Regie: Raymond Depardon

Anfang des 20. Jahrhunderts wird ein junger Nomade in der Sahara von einem Jägerstamm adoptiert. Er wird sesshaft und ein ausgezeichneter Führer durch die Wüste, bleibt aber trotz Heirat und Anerkennung im Stamm ein Mann ohne Familie und ohne Wurzeln - ein Einzelgänger, der sich gegen die Kolonisation und für das freie Leben als Nomade in den Sanddünen entscheidet. Eine in betörenden schwarz-weißen Bildern erzählte philosophisch-poetische Studie über die Faszination der Wüste und eine fast verlorene einfache, märchenhafte Welt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
UN HOMME SANS L'OCCIDENT
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Canal +/CNC/Palmeraie et Désert
Regie
Raymond Depardon
Buch
Raymond Depardon · Louis Gardel
Kamera
Raymond Depardon
Musik
Valentin Silvestrov
Schnitt
Roger Ikhlef
Darsteller
Ali Hamit (Alifa) · Brahim Jiddi (Alifa als Kind) · Wodji Ouardougou (Alifa als alter Mann) · Hassan Yoskoi (Alifas Vater)
Länge
104 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Seine ersten Filme in der Wüste, im Tschad, drehte der französische Fotograf, Journalist, Regisseur und Kameramann Raymond Depardon in den 1970er-Jahren. Es waren Dokumentarfilme über die Kämpfer revolutionärer Truppen gegen die Regierung, über die von den Rebellen als Geisel festgehaltene Französin Françoise Claustre. Für den Franzosen war es eine fremde und faszinierende, aber auch nur schwer zu begreifende Welt, in der Freiheit, Gefangenheit, Gewalt, die Weite der menschenleeren Landschaft und die Reflexion über das Leben, eine neue Dimension bekam: „Am Anfang gab es nichts, was mich an Afrika und seine Wüste band. Aber meine Aufenthalte wurden immer länger, ich war glücklich dort und habe immer konstruierwieder Lust, dorthin zurückzugehen, unter welchem Vorwand auch immer. Vielleicht auch deshalb, um etwas anderes zu machen: die Wüste zu filmen.“ Sein Wüstenfilm „La captive du désert“ („Die Gefangene der Wüste“, 1989, mit Sandrine Bonnaire – über die Geiselnahme von Françoise Claustre) war zwar an Fakten orientierte, aber im Grunde freie Improvisation ohne chronologische Handlung über eine Frau, die notgedrungen versucht, sich mit der Hitze, dem Licht, dem Sand und den Menschen zurechtzufinden. Beige- und Gelbtöne dominierten, aber die Geschichte hatte stellenweise schon etwas von dem märchenhaften und mythischen Unterton, den Depardons neuer Film „Vom Westen unberührt“ auszeichnet.

Ausgangspunkt ist der Roman des französischen Offiziers Diego Brosset („Sahara, un homme sans l’occident“), der von den Menschen auf den Reit-Dromedaren der Wüste zu Beginn des 20. Jahrhunderts erzählt. Einer von ihnen ist Alifa der als Jäger allein die Sanddünen der Sahara durchstreift. Eigentlich ist der junge Mann Sohn von Nomaden. Als Kind gelang es ihm, zusammen mit seinem Vater und seinem Onkel einer Gruppe von Räubern zu entkommen, aber nur Alifa überlebte die Flucht durch die Wüste. Ein Stamm von Jägern nahm ihn bei sich auf. So wurde er Jäger und später Führer für Wüsten- Unkundige. Er ist etwa 20, als die Männer aus dem Westen, die Franzosen, kommen und den Stamm unterjochen. Aber Alifa weigert sich, sich den weißen Eindringlingen unterzuordnen; er kann entkommen und allein durch die Wüste ziehen. Dabei rettet er den Sohn eines anderen Stammeshäuptlings und bekommt zum Lohn seine Tochter zur Frau. Aber Alifa ist auch dabei nicht glücklich und bietet sich schon nach wenigen Tagen an, als ein Mann einen Führer durch die Wüste sucht.

Die Aussage, die dahinter steht, ist einfach: Wer als Nomade geboren ist, wird es nie schaffen, auf Dauer sesshaft zu werden, denn Nomaden sind Menschen ohne Familie und ohne Wurzeln, die nichts so sehr lieben wie ihre Freiheit und eine Landschaft, die sie immer wieder vor neue Herausforderungen stellt. Es mag sein, dass dies auch Depardons Wunschvorstellungen sind, denn selten hat er so viele autobiografische Elemente in einem Film gepackt. Gedreht als schwarzweißer Stummfilm – und erst später vertont mit der Erzähler- Stimme aus dem Off und einigen nicht untertitelten Dialogen der Stammesmitglieder –, wirkt sein Film über weite Strecken wie eine Fotoreportage mit betörend schönen Bildern: Zwei Erwachsene und ein Kind kämpfen sich durch den Sand, ein junger Mann sitzt selbstzufrieden auf einer Anhöhe und schaut glücklich hinaus in die weite Landschaft, ein Mann trägt sein Gewehr auf beiden Schultern langsam durch die Wüste, eine Karawane rastet vor einer in bizarren Formen aufragenden Bergkette, während der Wüstenwind über die Ebene fegt. Jede Szene wirkt wie eine in Licht und Formen einfühlsam konstuierte Momentaufnahmen, selbst die wenigen Actionszenen und die Szenen, in denen man Menschen beim Sterben zusieht. Die Umrisse der Dünen, die Schatten von Mann und Reittier – alles ist von erlesener zeitloser Schönheit, was durch das Schwarz-weiß noch stärker hervortritt und stellenweise einen märchenhaften, freilich nie romantischen oder exotischen Charakter bekommt. Aber man weiß nicht, was Depardon wichtiger war: der Kinofilm, der Bildband oder die Foto-Ausstellung, die er aus demselben Material zusammenstellte. Denn die einfache Geschichte von Alifa ist nicht so wichtig wie die Bilder und wirkt wie ein Alibi, sich noch einmal von dieser fremden Wüstenwelt einfangen zu lassen und über den Sinn und die Bestimmung im Leben nachzudenken – oder wie der heute 61-Jährige es in der berühmten „Libération“-Umfrage (1987) auf den Punkt brachte: „Ich filme, um glücklich zu sein. Um dem Schmerz zu entfliehen, um zu träumen, zu reisen. Um einen Vorwand zu haben, an einen geliebten Ort zurückzukommen mit den Menschen, die man mag.“ Wer sich auf diese Reise einlässt, dem kann Depardons philosophisch angehauchter poetischer Film viele Anregungen geben, den anderen bleiben die betörend schönen Bilder.

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