Dokumentarfilm | Schweiz 2003 | 118 Minuten

Regie: Edith Jud

Dokumentarfilm über den Multikünstler Dieter Roth. Ein aus Interviews mit Freunden, Künstlern und Verwandten montiertes Künstlerporträt, das auf zahlreiche filmische Selbstzeugnisse und O-Töne zurückgreift. In einer liebevollen Montage fügt sich eigenes Material mit dem des eloquenten Sonderlings und präsenten Selbstdarstellers zusammen. Dabei entsteht eine aus heterogenen Einzelfacetten gearbeitete Lebenslandschaft, die vor allem durch die Ausstrahlung und die Offenheit des Porträtierten fasziniert. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DIETER ROTH
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
RECK Film/Laurenz-Stiftung Basel/SCHAULAGER/SF DRS/3sat
Regie
Edith Jud
Buch
Edith Jud
Kamera
Pio Corradi
Musik
Dieter Roth
Schnitt
Loredana Cristelli
Länge
118 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Von den brodelnden isländischen Quellen lenkt die Kamera den Blick auf die brodelnden Töpfe des Künstlers. Da gluckst eine klebrige Masse, aus der Dieter Roth seine Löwenköpfe gegossen hat. Roths Kunst hat keinen Anfang und kein Ende; seine Skulpturen wirken wie Naturspielplätze. Wie Treibgut am Strand befindet sich sein Werk im steten Stadium der Zersetzung. So seine Köpfe aus Schokolade und anderen klebrigen Materialien im „Schimmelmuseum“ in Hamburg. „Wie bist du Künstler geworden?“, wird er gefragt und antwortet: „Ich weiß nicht wie und ob.“ Das Zitat aus den „100 fragen an diter rot“ umreißt Selbstverständnis und literarisches Talent des Universalgenies Dieter Roth (1930- 98), der gern mit Andy Warhol oder Joseph Beuys verglichen wird. Waren Beuys und sein Werk fest in der Wirklichkeit verankert, verweist Roths ausuferndes Werk auf das Vergehen von Zeit. Zeit und Zerfall sind Roths wiederkehrende Themen. Seine Schokoladen-Skulpturen beispielsweise sollten wie Strandgut, das sich dem Boden allmählich angleicht, verschwinden. „Es ist rührend euphorisierend“, so Roth, „zu betrachten, wie es untergeht.“

Wie setzt man einem Künstler, der ein chaotischer Mensch war, Alkoholprobleme hatte und wie ein Berserker arbeitete, ein filmisches Denkmal? Und noch dazu einem, in dessen Werk die „Dialektik von Zerstörung und Kreativität“ den zentralen Stellenwert hat. Keine leichte Aufgabe, aber eine, bei der das Film- und Videomaterial, das der Multikünstler selbst über die Jahre seines Schaffens produzierte, den filmwirksamen Aspekt bildet. Teils handelt es sich um Aufnahmen, die bei öffentlichen Auftritten Roths entstanden, etwa bei der Verleihung des Rembrandt-Preises an ihn 1982, teils um 16mm-Material, mit dem Roth in den 1960er- und 1970er-Jahren experimentierte. Edith Juds Konzept für den Film ist klar. Als Führer durch die komplexe Biografie, die sich zwischen Malerei, Zeichnung, Skulptur, Design, Literatur, Film, Musik und Performance bewegt, fungieren die Interviews mit Dieter Roths Sohn Björn. Viele Jahre stand er seinem Vater zur Seite und führt dessen Arbeit fort. Björn Roth, der seinem Vater erstaunlich ähnlich sieht, erklärt in den Ateliers in Hamburg, auf Island und in Basel die Arbeitsweise, die Persönlichkeit und sein Verhältnis zum Vater. Obwohl Björn Roth häufig im Vordergrund steht, scheint es, als führe Roth Senior durch den Film. Einerseits weil er in den entscheidenden Passagen, vermittelt über das historische Material, das letzte Wort erhält, andererseits weil er vor der Kamera über eine eigentümliche Ausstrahlung verfügt. Die Freunde und Künstlerkollegen, die Edith Jud vor der Kamera nach Roth befragt, werfen unterschiedliche Spotlights auf die Phasen der Biografie. So Jan Voss, der am Strand von Island die „poetische Wahrheit“ als die „eigentliche Lektion“ seines Lehrers erkennt. Wahrheiten bietet der Film auch hinsichtlich der Beziehung zu Kurt Kalb, dem einzigen Kunsthändler in Wien, mit dem sich Roth nicht überwarf. Dass da Freundschaft im Spiel war, belegt das Anschwellen des fotografischen Materials, das Einblick in das schwierige Privatleben gibt. Die Montage zwischen den Interviews mit den Freunden und den Filmdokumenten unterhält durch ihren Humor; so, wenn Roths Londoner Verleger Hansjörg Mayer vom literarischen Anspruch und dem phänomenalen Gedächtnis seines Autors berichtet und dazu Aufnahmen von einer Lesung geschnitten sind. „Ich hatte ganz vergessen, dass das so langweilig war, ich hör’ mal damit auf“, unterbricht Roth die Veranstaltung.

Roths „Duette“ und „Duelle“ mit dem Künstler und Freund Arnulf Rainer geben auch psychologisch Aufschluss über die Beziehung der beiden ungleichen Künstler. Da spricht der Künstler Roth in die Kamera, und es ist unschwer zu erkennen, dass hier ein medienbewusster Mensch am Werk ist, der – anders als Arnulf Rainer, der neben Roth fast wie ein Statist wirkt – ein besonderes Verhältnis zur Kamera hat. In den „Soloszenen“ aus den Jahren 1997/98 gibt Roth Kommentare zu den Qualen im Atelier: „Tagelang, wochenlang am Schreibtisch und mehr und mehr beelendet am Verrinnen der Zeit.“

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