Ararat (2002)

- | Kanada/Frankreich 2002 | 115 Minuten

Regie: Atom Egoyan

Verschachteltes Drama von Atom Egoyan über die Frage, wie sich heute im Ausland lebende Armenier des historischen Massenmordes an ihren Vorfahren erinnern sollen, denen in den Jahren 1915 bis 1918 auf Bereiten und mit Duldung der jungtürkischen Regierung 1,5 Mio. Menschen zum Opfer fielen. Die Wege und Schicksale einer Handvoll Menschen kreuzen sich dabei entlang der Dreharbeiten zu einem Historienfilm, der den Genozid im Stile Hollywoods rekonstruieren will. Kein historisierendes Drama, sondern eine kunstvolle Reflexion über Schwierigkeiten sowie die Notwendigkeit des Erinnerns, wobei der ebenso intelligente wie entschlossene Film mitunter bittere Wahrheiten zumutet. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
ARARAT
Produktionsland
Kanada/Frankreich
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Alliance Atlantis/Astral/Ego Film Arts/Serendipity Point/Super Ecrran/The Harold Greenberg Fund/Teh Movie Network/Téléfilm Canada/ARP Sélection
Regie
Atom Egoyan
Buch
Atom Egoyan
Kamera
Paul Sarossy
Musik
Mychael Danna
Schnitt
Susan Shipton
Darsteller
David Alpay (Raffi) · Arsinée Khanjian (Ani) · Christopher Plummer (David) · Charles Aznavour (Edward Saroyan) · Marie-Josée Croze (Celia)
Länge
115 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Es ist wahrscheinlich das am meisten verdrängte und verleugnete Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts: der von der jungtürkischen Regierung verübte Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich in den Jahren 1915-1918. Am 15. September 1915 ordnete Großwesir Taalat Pasha in einem Telegramm an die Präfektur von Aleppo an: „Das Recht der Armenier, auf dem Gebiet der Türken zu leben und zu arbeiten, wird gänzlich abgeschafft.“ 1,5 Millionen Armenier sollten bei den darauf einsetzenden Massakern und Deportationen den Tod finden – fast die Hälfte des Volkes, das als erstes im Jahr 301 das Christentum als Staatsreligion anerkannte. Der Genozid ist im Film einige Male thematisiert worden: von Elia Kazans differenziertem Emigranten-Drama „Die Unbezwingbaren“ (1963) bis zu Henri Verneuils Alterswerk „Mayrig“ (1991). Weitaus größer allerdings ist die Zahl der Projekte, die aufgrund türkischer Interventionen nicht zustande kamen. So plante MGM bereits 1932/33 eine Adaption von Franz Werfels historisch verbürgtem Widerstandsepos „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Der Film wurde nie gedreht, weil die Türkei den USA mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen drohte. Auch Ottokar Runze, der die Verfilmungsrechte an Werfels Roman erworben hat, versucht seit einem Jahrzehnt, das Schicksal der in der Diaspora lebenden Armenier zu verfilmen.

Nun hat der in Kanada aufgewachsene armenische Autorenfilmer Atom Egoyan einen Weg gefunden, die grausigen Geschehnisse der Vergessenheit zu entreißen. Egoyan entschied sich, den Genozid von der Gegenwart aus zu thematisieren. Um die Gräueltaten der Vergangenheit darzustellen, wendet er einen intelligenten Kunstgriff an: Der von Charles Aznavour verkörperte Regisseur Saroyan dreht einen Film über den Völkermord an den Armeniern, wobei ihm der Berg Ararat, an dessen Gipfel einst die Arche Noah strandete, als unverrückbares Symbol für den Überlebenswillen der Armenier gilt. Egoyans Alter ego Saroyan will der sogenannten zivilisierten Welt die fast vollständige Vernichtung der 3000 Jahre alten Kulturnation im Stile Hollywoods vor Augen führen. Durch zahlreiche Auseinandersetzungen mit der als Beraterin engagierten Kunsthistorikerin Ani, die lieber über das Werk des Malers Arshile Gorky referiert als ihren Sohn Raffi über den geheimnisvollen Tod seines Vaters aufzuklären, entscheidet sich der alte Meister im Lauf der Dreharbeiten doch noch für eine authentische Darstellung, statt auf Spektakel und Effekte zu setzen.

Scheinbar mühelos wandern Egoyan und sein Kameramann Paul Sarossy auf der Suche nach Wahrheit und Versöhnung durch Zeiten und Räume. In der Rahmenhandlung erzählt der junge David, der im Ursprungsland seiner Eltern Landschaftsaufnahmen für Saroyan machte und unwissend Drogen nach Kanada schmuggelt, dem Zollbeamten die Geschichte vom Völkermord und der Suche nach Identität. Die aufwändige Nachstellung der historischen Ereignisse, die auf Clarence Ushers Augenzeugenbericht „Ein amerikanischer Arzt in der Türkei“ basiert, geht bisweilen bis an die Grenze des Erträglichen: Armenische Frauen werden vergewaltigt und massakriert, Kinder erschossen und Männer enthauptet. Alles nur ein Film, versucht man sich als Beobachter einzureden, doch spätestens, wenn sich nach der Premiere von Saroyans Film die Problematik zwischen den Charakteren fortsetzt und die durch die Verleugnung von Generation zu Generation vererbte Tragik der armenischen Geschichte zu spüren ist, drängt sich dem Zuschauer die bittere Wahrheit auf.

Egoyan verteufelt dabei die Türken nicht. Er macht auch nicht die Nachfolgegenerationen für die Verbrechen der jungtürkischen Regierung verantwortlich. Vielmehr sucht er den Diskurs mit der heutigen Türkei. Elias Koteas schlüpft als türkischer Schauspieler Ali aus Bewunderung für Saroyan in die Rolle eines sadistischen Befehlshabers der Osmanen. Außerhalb des Sets ist er ein herzensguter Mensch, der offensiv, aber nicht militant mit seiner Homosexualität umgeht. In der Diskussion mit David, der den Dreharbeiten beiwohnt, hält er den Völkermord allerdings für eine Erfindung der Armenier. Er hat es nicht anders gelernt, denn in den türkischen Geschichtsbüchern steht bis heute nichts über diesen Genozid. Während zahlreiche Länder den Völkermord an den Armeniern längst anerkannt haben, ist dies sowohl von türkischer als auch deutscher Seite noch immer nicht geschehen. Hierzulande startet „Ararat“, der in Kanada mit fünf Genie-Awards ausgezeichnet und von der „New York Times“ als „gedanklich herausforderndster Film des Jahres“ bezeichnet wurde, gerade Mal mit fünf Kopien, sodass wohl nur ein geringer Teil der in Deutschland lebenden Türken Gelegenheit haben wird, sich mit einem der schwärzesten Kapitel der eigenen Vergangenheit auseinander zusetzen. Dabei könnte Egoyans differenzierter Film der Anfang einer Annäherung zwischen Türken und Armeniern sein.

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