Fünf Uhr am Nachmittag

Drama | Iran/Frankreich 2002 | 106 Minuten

Regie: Samira Makhmalbaf

In ihrem dritten Spielfilm beschreibt die junge iranische Regisseurin Samira Makhmalbaf den aktuellen Alltag in Afghanistan, das Verhältnis der Generationen und zwischen den Geschlechtern. Hauptfigur ist eine lernbegierige junge Frau, die ohne Wissen ihres gottesfürchtigen Vaters eine Schule besucht und von der Vision fasziniert ist, einmal die erste Präsidentin ihres Landes werden zu können. Der im Detail äußerst präzis beobachtete, ausschließlich mit Laiendarstellern besetzte Film ist realistisch und symbolisch zugleich, verweigert sich mit seinem bitteren Finale aber jeder schnellen Hoffnung auf eine Besserung der Zustände. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
A CINQ HEURE DE L'APRÈS-MIDI | PANJ E ASR
Produktionsland
Iran/Frankreich
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Makhmalbaf Film House/Wild Bunch/Bac Films
Regie
Samira Makhmalbaf
Buch
Samira Makhmalbaf
Kamera
Ebrahim Ghafori
Musik
Mohammad Reza Darvishi
Schnitt
Mohsen Makhmalbaf
Darsteller
Aghele Rezale (Noqreh) · Abdolgani Yousefrazi (Vater) · Razi Mohebi (Dichter) · Marzieh Amiri (Schwiegertochter)
Länge
106 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
In Roberto Rossellinis „Deutschland im Jahre Null“ (fd 1797) verfällt die zwölfjährige Hauptfigur Edmund einmal unvermittelt ins Hüpfspiel von „Himmel und Hölle“. Dies umfasst nur wenige Augenblicke: Der Junge, der noch Kind ist und doch keines mehr sein darf, verwischt die Erinnerung an seine frühen, womöglich glücklicheren Jahre, indem er das Spiel abrupt abbricht. In Samira Makhmalbafs „Fünf Uhr am Nachmittag“ gibt es einen ähnlichen Moment: Noqreh, eine junge Frau, streift plötzlich in einem großen leeren Raum ihre Schuhe ab, hüpft auf dem Boden umher, mit Blick aus dem Fenster in eine Weite, in der alles möglich ist. Flüchtige Reminiszenz an jenes Mädchen, das es selbst noch vor kurzem war. Doch der Krieg, das Leid, der Terror und der Hass haben die Biografie sowohl von Edmund als auch von Noqreh verändert. Die zerstörte Reichskanzlei, einer der einprägsamsten Spielorte bei Rossellini, findet ihre Entsprechung in dem zerstörten Kabuler Palast, in dem Noqrehs Familie vorübergehend Unterschlupf findet. Hier wie dort irren die Menschen durch die Trümmer: Verwundete, Getriebene, Heimatlose. Und wie bei Rossellini sind es ausschließlich Laiendarsteller, die ihre eigenen Erfahrungen in jedem Blick und jeder Geste mitschwingen lassen.

Samira Makhmalbaf betrachtet es als ihre Pflicht, den propagandistisch aufgeladenen, positiven Fernsehnachrichten übers heutige Afghanistan einen Film der inneren Wahrhaftigkeit entgegen zu setzen. Das „Bild eines glücklichen und reichen Landes nach seiner Einnahme durch ‘Rambo‘“ kommt für sie deshalb nicht in Frage; stattdessen unternimmt sie den Versuch, „das Mysterium der Rückständigkeit dieser Region zu begreifen, den versteckten Krieg zwischen den Generationen, die Unterschiede zwischen dem Leben der Männer und dem der Frauen“. Dabei ist das Figurenensemble realistisch und symbolisch zugleich: Am Schicksal Noqrehs veranschaulicht die erst 24-jährige Regisseurin, welche Chance junge afghanische Frauen in ihrer Heimat tatsächlich haben; der Vater steht für eine Generation von Männern, die fest an den Gottesstaat glauben, aus tiefstem Herzen von den Taliban überzeugt waren und jeder neuen Entwicklung mit äußerstem Misstrauen begegnen; die Schwägerin, eine junge Mutter, ist wegen des Kleinkindes und der Abwesenheit von Noqrehs Bruder ganz auf die Rest-Familie angewiesen. Vollkommen vom Realistischen ins Mythologische führt die Figur des alten Mannes in der Wüste: der letzte Mensch, dem Noqrehs Familie auf ihrer Odyssee von Kabul ins Nirgendwo noch begegnet, und der mit seinen Worten ihr Schicksal gleichsam vorwegnimmt: „Ich hab’ meinen Weg verloren. Es gibt keine Dörfer mehr. Also bleibe ich für immer hier.“

Dramaturgisches Zentrum des Films ist eine zugleich private wie gesellschaftliche Vision: Noqreh besucht, ohne dass ihr Vater, ein bettelarmer Eselstreiber, dies wissen darf, mit enthülltem Gesicht eine Schule für junge Frauen. Eines Tages fragt die Lehrerin, welche Berufe die Mädchen ergreifen wollen: Lehrerin, Ärztin, vielleicht sogar Präsidentin? Noqreh zeigt sich fasziniert: Wenn Benazir Butto in Pakistan und Indira Gandhi in Indien Präsidentinnen werden konnten, warum dann nicht auch sie in Afghanistan? Diese Schulstunde, in der die Mädchen selbstbewusst Argumente austauschen und Demokratie üben, bewirkt bei Noqreh eine heftige Neugier: Wie wird man Präsident? Wodurch überzeugt man die anderen zu wählen? Der Film begleitet sie auf ihrer Suche nach Antworten. Flüchtlingsfrauen, die aus Pakistan in ihre alte Heimat zurückkehren, vermögen den Wissensdurst freilich nicht zu stillen: „Wir wissen es nicht, wir beten und fasten, wir sind Analphabetinnen.“ Ein Blauhelmsoldat – der einzige, der im Film überhaupt auftaucht – kennt wenigstens den Namen seines Premiers: „Mr. Chirac“. Erst ein junger Dichter, zweifellos die künstlichste Figur des Films, vermag zur Lösung einiger Fragen beizutragen, wenn auch auf ganz eigene, literarische Weise: Wenn jemand für eine öffentliche Rede üben wolle, um andere von sich zu überzeugen, könne er damit beginnen, Kühen Gedichte vorzulesen: „So kann er sich erlauben, unsinnige Dinge zu reden, ohne sein Publikum fürchten zu müssen.“ Samira Makhmalbaf greift hier – ebenso wie im Titel des Films – auf ein Gedicht von Federico Garcia Lorca zurück, die Elegie auf einen Torero, die sich, der Naivität der Protagonisten entsprechend, zur Elegie auf eine Kuh verwandelt.

Wie schon in ihren vorangegangenen Spielfilmen „Der Apfel“ (fd 33 986) und „Schwarze Tafeln“ (fd 35 214) gelingen der jungen Regisseurin auch in „Fünf Uhr am Nachmittag“ präzise Alltagsbeobachtungen, die zu eindrücklichen, oft symbolhaften Bildern verdichtet sind. Dazu gehören wiederholt eingeblendete Szenen, in denen sich Männer zur Wand drehen, wenn Frauen auf der Straße an ihnen vorbeilaufen; dazu gehört das Motiv der hochhackigen Schuhe, die Noqreh heimlich gegen ihre staubigen Latschen tauscht, wenn sie das Terrain der Familie verlässt. Oder der Fotograf, der im Auftrag des Dichters einige Fotos für Noqrehs „Wahlkampf“ macht und ausgerechnet bei jenem Bild, das die Frau zum ersten und einzigen Mal verschleiert zeigt, bemerkt, dies sei das beste von allen. Ebenso einfach wie grandios erscheint die Idee, die Schulklasse nacheinander von hinten und von vorn zu zeigen: Rücken an Rücken sehen die Mädchen in ihren identischen Gewändern alle gleich aus – von vorn aber sind die freien Gesichter zu sehen: Die Masse verwandelt sich in Menschen.

Auch die wechselnden Wohnsitze der Familie fungieren nicht nur als bloße Spielorte, sondern geraten immer auch zu Seelenlandschaften: das ruinöse Haus, in dem das Zimmer mit Flüchtlingen geteilt werden muss; das Flugzeugwrack, das sich nur noch bewegt, wenn sich draußen Kinder an die Flügel hängen; der ausgehöhlte Palast, dessen Tür- und Fensterlöcher wie tote Augen in die Wüste starren; schließlich der Himmel über der eiskalten Wüste als letztes Dach. Nicht zuletzt wird der alltägliche Schrecken, der in Afghanistan herrscht, durch eine Szene betont, in der eine „Mitkandidatin“ Noqrehs um den Posten der Präsidentin plötzlich in die Luft fliegt: Vom Mädchen, das einer Landmine oder einem Anschlag zum Opfer fiel, bleibt nur die Brille in Großaufnahme als Zeichen seiner Wissbegier und beginnenden Emanzipation. Solche metaphorischen Motive hinterlassen den Eindruck abgrundtiefer Bitternis. Auf die Frage, warum ihr Film so düster ende, entgegnete die Regisseurin, Afghanistan sei arm und habe nicht die Mittel, um den Übergang vom Faschismus zur Demokratie zu finanzieren: „Sonst gibt es niemanden, der zahlen will.“ Samira Makhmalbaf wagt also eine weitaus härtere, illusionslose Sicht auf die Dinge, als es manche internationalen Beobachter tun. Indem sie Noqreh am Schluss mit Vater und Schwägerin in die Wüste, in die beginnende Nacht hinein ziehen lässt, klassifiziert sie alle schnellen Hoffnungen auf Besserung der Verhältnisse als äußerst trügerisch.

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