Drama | Chile/Spanien/Venezuela 2003 | 90 Minuten

Regie: Gonzalo Justiniano

Eine 14-jährige Chilenin verliert nacheinander Mutter, Bruder und Vater. Trotz ihrer sich zuspitzenden Isolation entwickelt sie innere Reife und Stärke und hält gegen alle Erniedrigungen und sozialen Zumutungen an einer positiven Lebenseinstellung fest. Durch die nüchterne Erzählweise, die in satten Farben sorgfältig gestalteten Bilder, die einfühlsame Musik, das zurückhaltende Spiel der Darsteller und eine bemerkenswerte Hauptdarstellerin gelingt ein bewegendes Sozialdrama, das die Protagonistin an den vielen Schicksalsschlägen nicht zugrunde gehen lässt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
B-HAPPY
Produktionsland
Chile/Spanien/Venezuela
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Sahara/Cinecorp/Igeldo/Joel Films
Regie
Gonzalo Justiniano
Buch
Fernando Aragón · Sergio Gómez · Gonzalo Justiniano · Daniela Lillo
Kamera
Andrés Garretón
Musik
Cuti Aste
Schnitt
Danielle Fillios
Darsteller
Manuela Martelli (Kathy) · Ricardo Fernández (Chermo) · Felipe Rios (Danilo) · Juan Pablo Sáez (Nina) · Eduardo Barril (Radomir, Kathys Vater)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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Diskussion
Dass man sich seinen Vater nicht aussuchen kann und man mit dem zurecht kommen muss, den man hat, ist für die 14-jährige Kathy eine schmerzliche Erfahrung. Bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis nehmen Kathy und ihre Mutter den wegen diverser Raubüberfälle verurteilten Vater in Empfang. „Mach nicht so ein Gesicht“, sagt die Mutter zur Tochter, die sich – im Gegensatz zu ihr – kaum über das Wiedersehen freut. Unterstützt vom warmen Licht der Abendsonne und den Klängen leiser Geigen, evoziert die Kamera das Bild einer glücklich wiedervereinten Familie. Zur Begrüßung küsst der blauäugige Radomir seine Tochter, dann seine Frau, und schließlich nimmt er beide in die Arme. „Ich fürchte keine Hunde, keine Hexen, keine Erdbeben und kein Feuer. Ich fürchte mich nicht vor der Nacht. Ich fürchte mich vor gar nichts!“ Fast wie ein Mantra spricht Kathy diese Sätze. Und als wolle der Regisseur seiner Hauptdarstellerin Mut machen, lässt er ihre Stimme am Anfang, in der Mitte und noch einmal am Schluss aus dem Off erklingen. Bis dahin hat Kathy noch ganz andere Ängste überwunden: die vor Städten, dem Tod und jedem nächsten Morgen.

Kathy lebt mit ihrer Mutter und dem älteren Bruder Danilo in einem abgelegenen Haus in einer kleinen chilenischen Küstenstadt. Die Mutter hilft dem Gemüsehändler im Laden und ist ihm gelegentlich auch sexuell zu Diensten. Danilo ist arbeitslos, schwul und sehnt sich mit seinen Freunden nach einem anderen Leben. Das Familienleben schildert Gonzalo Justiniano als routinierten Kampf ums Überleben. Kein Wunder, dass Radomir nach seiner Entlassung schnell in alte Fahrwasser gerät und untertaucht. In der Schule lernt Kathy Chermo kennen, einen netten Jungen, der ihr Bücher schenkt. Als die Mutter stirbt und Danilo in die Großstadt zieht, bleibt Kathy zurück, und das Erwachsenwerden erscheint wie ein Zwang. „Hast du keine Angst hier, so ganz allein?“, fragt Chermo, als er Kathy besuchen kommt. „Man lernt mit der Angst zu leben!“, antwortet sie, die ihrem Freund in einer hinreißenden Verführungsszene befiehlt, sich auszuziehen. „Deinen Vater oder das Land, in dem du geboren wirst, kannst du dir nicht aussuchen, aber den ersten Freund kannst du wählen“, erklärt sie später stolz einer Freundin. So beschreibt „B-Happy“ das Lebensgefühl einer jungen Chilenin, deren Leben sich dramaturgisch auf einer schiefen Ebene entwickelt. Es gibt Lichtblicke, doch durch eine Folge von Schicksalsschlägen verstärkt sich Kathys Isolation. Im zweiten Drittel beschleunigt Justiniano das Tempo, dem Lebensrhythmus der Großstadt entsprechend, in die es Kathy zieht. Atemlos wird man Zeuge ernüchternder Erlebnisse zwischen Besserungsanstalt und Prostitution. Das alles wird unsentimental und fast beiläufig zu Kathys Suche nach ihrem Vater erzählt.

Der 1955 in Santiago de Chile geborene Gonzalo Justiniano („Gedächtnisschwund“, 1994) ist Absolvent der Pariser „Ecole du Cinéma Louis Lumière“ und arbeitet seit 1985 als Filmemacher. Hatte er sich in „Kopf oder Zahl“ (1990) dem Alltag eines chilenischen Straßenjungen gewidmet und ein Milieu ohne Zukunft beschrieben, so inspirierte ihn zu „B-Happy“ die Begegnung mit einer jungen Kellnerin, die Chile von Süd nach Nord durchquert hatte, um „von vorne anzufangen“. Fasziniert war er vor allem von ihrer Stärke und inneren Kraft: „Sie war für mich der lebende Beweis für jenen starken Instinkt von jungen Frauen und Männern, die das lateinamerikanische Kino normalerweise nicht zeigt.“ Konsequent hält der Regisseur an der Perspektive des Mädchens fest und macht „B-Happy“ zum eindringlichen Porträt einer 14-Jährigen, für die die Phase der Ablösung von der Familie mit deren Verlust zusammenfällt. Trotz ihrer fortschreitenden Vereinsamung entwickelt die Protagonistin innere Reife, weshalb sie die Zügel ihres Lebens immer wieder selbst in die Hand nehmen kann. Justiniano erzählt chronologisch und gradlinig, was dem unbeugsamen Charakter der Protagonistin entspricht, für den er nachdrückliche Bilder findet; so bei der Beerdigungsszene der Mutter: Angetrieben vom Heulen des Windes, der Begräbnismusik und den Worten des Predigers von der Verdammnis, wendet sich Kathy von der kleinen Beerdigungsgesellschaft ab, klettert über Grabsteine und scheint der Bewegung der Kamera in die Baumkronen zu folgen. Am Schluss sitzt sie allein in einem Überlandbus und bricht zu einem Neuanfang auf. Ihr Gesicht zeigt den mürrisch-selbstbewussten Ausdruck einer Kämpfernatur.

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